Auch Spießer wollen tanzen

Der Film »Chanson d’amour« zeigt den Charme der französischen Provinz. von tilman vogt

Die Großstadt gehört zum französischen Film. Dabei ist es egal, ob die Urbanität mit einer hektischen Szene in der Pariser Metro oder in Form zermürbender Diskussionen großbürger­licher Paare auf ihrem Alterssitz in der Provence dargestellt wird.

Um so interessanter kann es aber auch sein, wenn sich ein Regisseur aus dem sicheren Paris aufmacht und in seinem Film die fremdartige Provinz in den Mittelpunkt stellt, ohne das Leben auf dem Land als das Heilmittel für die vermeintlich von der Zivilisation geschädigten Bewohner der Großstadt zu verherrlichen.

In »Chanson d’amour« hat sich Xavier Giannoli ein Milieu herausgesucht, das in der ­Großstadt schwerlich zu finden sein dürfte. Es geht um die Welt der Dorf­discos und Ballhäuser, in denen der schon in die Jahre gekommene Chansonsänger Alain Moreau (Gérard Depar­dieu) mit seiner Tanzband Woche für Woche seine schnulzigen Lieder anstimmt, um so sein mehr als reifes Publikum zum Tanzen und Schunkeln zu bewegen. Giannoli hat einen sehr einfühlsamen Blick für das eigentümliche Leben einer singenden Lokalgröße zwischen Altersheimen, Betriebs­feiern und Geburtstagen, auf denen zum Leidwesen Alains schon einmal das Kara­oke-Singen gefordert wird.

Eigentlich hat sich der Regisseur vorgenommen, diesen nicht gerade anregenden Kosmos ohne großstädtischen Snobis­mus abzubilden und die ganz eigene Anmut, Würde und Schönheit zu zeigen. Doch es bleibt lediglich bei der Absicht. In das Szenario schleichen sich immer wieder Momente ein, in denen der ­Charme der Provinz verloren geht.

Stattdessen entsteht eine verächtliche Distanz: So packt den Zuschauer letztlich doch nur der Ekel vor dem Spießer, wenn ein Verwaltungsangestellter mit einer großen Brille halb verschmitzt, halb geniert seine Tombol­atrophäe von der Bühne abholt und sich aus dem Scheinwerferlicht quält. Lächerlich ist es, wenn sich unzäh­lige Füße ungelenk in Bewegung setzen, als handele es sich um Aufnahmen von einem Primanertanzkurs.

Ungleich bedrückender ist allerdings die große Melancholie, die den Betrachter erfasst, wenn er die verlorenen Figuren des Films dabei beobachtet, wie sie versuchen, ihr Leben zu meistern. Alain vergleicht sein Äußeres mit dem der blutjungen Musikstars auf MTV. Er färbt sich blonde Strähnchen und bearbeitet seine zerfurchte Haut ausgiebig mit einem Gesichtsbräuner. Auch die Gäste seiner Shows jagen der verschwundenen Welt der Jugend nach. Auf den Tanzabenden täuschen sie sich die Jugendlichkeit vor und wollen doch einfach nur nicht als Singles alt werden. Alain bringt die Grund­lage seines Geschäftes deshalb gut auf den Punkt: »Wie viele Singles gibt es in Frankreich? Was glauben Sie? 14 Millionen. Alles potenzielle Tänzer. Ganz schön viele, was?«

In diese etwas schmierige Welt der Bräunungscrémes, die die Bilder der jugendlichen Superstars nachstellen soll, verirrt sich plötzlich die attraktive, junge Maklerin Marion (Cécile de France). Sie vereint alle Wunschvorstellungen der anderen Gäste in sich und fühlt sich dementsprechend unwohl. Alain verliebt sich sofort in die junge Frau und umgarnt die zunächst äußerst zögernde Marion mit allem, was er bieten kann: mit seinen Liedern.

Zuerst widerstreben Marion die mit Klischees beladenen Schlager. Die unbeholfenen Annäherungsversuche prallen an ihr ab. Irgendwann aber scheinen genau diese Schnulzen Alains und Marions grundverschiedene Lebenswelten zusammenzuführen. Zufällig hört Marion eine CD, die ihr der Sänger aufgedrängt hat. Die von Zweifeln und Minderwertigkeitsgefühlen gequälte Frau erkennt in den Liedern ihres schmachtenden Verehrers eine Melancholie und Aufrichtigkeit, die in der Geschäftswelt, in der sie selbst zuhause ist, keinen Platz haben. Die Chansons haben also trotz ihres kitschigen Gehalts, ihrer Plattitüden und Klischees eine verschüttete Ebene der Schwäche und der Hoffnung bewahrt, die selbst die Altersgrenzen überwindet. Insofern ist »Chanson d’amour« auch ein wunderbarer Film gegen die Ideologie des Generationenkonflikts.

Schade ist an der Geschichte, in der Depardieu mit erstaunlichen Gesangskünsten glänzt, nur, dass sie trotz ihres Esprits einige Längen aufweist. Da hilft auch der Versuch nicht, die Spannung am Ende noch einmal steigern zu wollen. Während Alain differenziert dargestellt wird, bleibt die Figur Marion mit ihren Konflikten eher im Dunklen. Auch der Regieeinfall, lange, atmosphärische Stand­bilder zu verwenden, trägt nicht gerade dazu bei, den doch etwas trägen Plot zu beschleunigen. Die wiederkehrenden Auf­nahmen des zusammengesackten Kolosses Depardieu vor einer Discothek im Morgengrauen ermüden den Zuschauer.

Wer möchte schon beim Tanztee noch ein drittes oder viertes Stück Sahnetorte? Da hätten dann doch schneidigere Dia­loge und dynamischere Szenen, vielleicht also doch mehr Urbanität, gut getan.

»Chanson d’amour«. Regie: Xavier Giannoli, Frankreich 2006, 112 Minuten, Start: 18. Januar