Verstrahlte Verdächtige

Nur unter Überwachung können britische Beamte im Mordfall Litwinenko in Russland ermitteln. Sie suchen auch nach einem Motiv. von ute weinmann, moskau

An Spuren, Verdächtigen und Theorien mangelt es nicht. Doch die neuen Erkenntnisse, die bei den Ermittlungen gegen die Mörder des am 23. November an den Folgen einer Poloniumvergiftung verstorbenen Alexander Litwinenko bekannt werden, lassen den Fall eher noch undurchsichtiger erscheinen.

Mit Andrej Lugowoj, wie Litwinenko ein ehemaliger Agent des russischen Geheimdienstes, gibt es zwar einen ebenfalls radioaktiv verstrahlten inoffiziellen Hauptverdächtigen, aber immer noch kein schlüssiges Motiv. Die Ermittler von Scotland Yard rechneten damit, dass die Vernehmung Lugowojs und seiner Geschäftspartner Dmitrij Kowtun und Wjatscheslaw Sokolenko in Moskau zu wichtigen Schlussfolgerungen führen könnten. Alle drei hatten sich am 1. November mit Litwinenko getroffen, an jenem Tag, an dem er mutmaßlich vergiftet wurde.

Die russische Staatsanwaltschaft erklärte sich bereit, den britischen Kollegen jegliche nur erdenkliche Unterstützung zu gewähren. Nach deren Eintreffen in Moskau am 4. Dezember wurde allerdings klar, dass die Unterstützung an strenge Vorgaben geknüpft ist. Bei den Zeugenvernehmungen kommt den Briten nur eine Rolle als Beisitzer ohne Fragerecht zu, während die Mitarbeiter der russischen Staatsanwaltschaft die Federführung übernehmen. Inzwischen hat diese selbst ein Strafverfahren wegen Mordes an Litwinenko und versuchten Mordes an dem im Koma liegenden Kowtun, dessen Karriere ebenfalls beim KGB begann, eingeleitet.

Weil eine zwischenstaatliche Vereinbarung fehlt, ist eine Übergabe von Verdächtigen an Großbritannien ausgeschlossen. Außerdem ist es Scotland Yard untersagt worden, Gespräche mit der Führung des Inlandsgeheimdienstes FSB und dem ehemaligen FSB-Offizier und Regierungskritiker Michail Trepaschkin zu führen, der aus dem Gefängnis heraus um ein Treffen mit den britischen Ermittlern gebeten hatte.

Russland will den Gang der Ermittlungen offensichtlich selbst so weit wie möglich kontrollieren. Scotland Yard zog Spezialisten des FBI zu Rate, die britischen Ermittler arbeiten auch mit dem israelischen Geheimdienst zusammen. Von besonderem Interesse sind dessen Angaben zu den in Israel lebenden russischen Emigranten, die sich offen gegen den Präsidenten Wladimir Putin äußern. Unter ihnen sind einige ehemalige Miteigner des Ölkonzerns Yukos, den die russische Regierung mit dubiosen Methoden unter ihre Kontrolle brachte, und deren Geschäftspartner. Russland besteht auf ihrer Auslieferung, und der pensionierte FSB-Generalmajor Aleksej Kondaurow behauptete vor einigen Jahren, dass die russischen Sicherheitsdienste planten, einen der Yukos-Aktionäre aus Israel zu entführen. Israel ist zudem besorgt, weil der Anschlag auf Litwinenko mit Polonium aus einem staatlichen Nuklearlabor begangen wurde, und befürchtet, dass auch Islamisten sich radioaktives Material beschaffen könnten.

Den Schätzungen von Experten zufolge werden weltweit pro Jahr nicht mehr als 100 Gramm Polonium hergestellt. Das scheint darauf hinzudeuten, dass hinter dem Mord die Sicherheitsdienste einer Atommacht stehen. Allerdings beteuern russische Kritiker der Nuklearindustrie, dass bei Lieferungen radioaktiver Isotope an den Westen immer wieder Teile »verloren« gehen, so z.B. bei einem Transport Anfang der neunziger Jahre an Großbritannien, und dass gegen hohe Summen selbst das seltene Polonium auf dem europäischen Schwarzmarkt zu haben sei. Dennoch ist die Beteiligung von Geheimdiensten wahrscheinlich. Die Frage ist eher, ob diese in offiziellem Auftrag gehandelt haben oder nicht.

Warum aber wählten die Attentäter einen so seltenen und teuren Giftstoff? Entweder sollte die Verwendung des ungebräuchlichen radioaktiven Materials von Anfang an belegen, dass der Mord von einem Geheimdienst zu verantworten ist, oder aber der Mörder ging dilettantisch vor und verabreichte seinem Opfer eine zu hohe Dosis. Bei einer geringeren Menge wäre Litwinenko nicht bereits nach drei Wochen an den Folgen der Vergiftung gestorben, sondern womöglich erst Monate später. Das Polonium wäre in dieser Zeit größtenteils zerfallen oder ausgeschieden worden, ein Nachweis für die Todesursache hätte wohl nicht mehr erbracht werden können.

Wohl kaum sollte dieser Mord allein zur Abschreckung der politischen Opposition dienen, diese wurde bereits zu Genüge durch den Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja eingeschüchtert. Ginge es wirklich darum, einen Widersacher aus dem Weg zu räumen, hätte das Polonium seinen Weg in den Körper von Boris Beresowski finden müssen. Beresowski gehörte unter Präsident Boris Jelzin zu den reichsten so genannten Oligarchen, überwarf sich jedoch mit dessen Nachfolger Putin und schart seitdem Gegner der russischen Regierung um sich.

Andererseits aber erfüllt Beresowski derzeit eine nützliche Funktion. Der Kreml legt ihm vorzugsweise Vergehen zu Last, die dem Image Russlands schaden. Der russische Generalstaatsanwalt Jurij Tschajka kündigte an, in Kürze zum wiederholten Male einen Antrag auf Auslieferung Beresowskis zu stellen. In dessen Londoner Büroräumen wurden ebenfalls Spuren von Polonium gefunden.

In den vergangenen zehn Jahren kam es zwischen Russland und Großbritannien zu einer Reihe von Konflikten, deren Ursache häufig Spionagefälle waren. Allerdings könnte der Fall Litwinenko weiter reichende Folgen haben als vorherige Agentenskandale. Es soll derzeit nach Angaben US-amerikanischer Sicherheitsdienste so viele russische Spione im Westen geben wie zu Zeiten des Kalten Kriegs. Seit diesem Jahr ist der FSB offiziell dazu befugt, mit Erlaubnis des russischen Präsidenten Auslandseinsätze zur Abwendung von Sicherheitsbedrohungen durchzuführen. Bereits seit 1999 verfügt der FSB über eine eigene Aufklärungsabteilung für die GUS-Staaten, während die Geheimdiensttätigkeit außerhalb des Gebietes der ehemaligen Sowjetunion bislang in der Kompetenz des militärischen Abschirmdienstes GRU und des 1992 gegründeten Dienstes für Außenaufklärung SWR lag.

Während der Amtszeit von Wladimir Putin wurden die Geheimdienste aufgewertet und im Staatshaushalt bevorzugt berücksichtigt. Die Anzahl der aus dem gesamten Sicherheitsapparat stammenden Vertreter in der politischen Führung stieg im Vergleich zur Regierungszeit Boris Jelzins spürbar an. Eine wachsende Zahl von ehemaligen Agenten übernimmt zudem leitende Positionen in der Wirtschaft oder gründet eigene Unternehmen wie Andrej Lugowoj, der mit seiner Sicherheitsfirma ein beträchtliches Vermögen anhäufen konnte.

Andere setzen sich ins Ausland ab und verdingen sich oftmals als Berater westlicher Geheimdienste. So auch Jewgenij Limarjow, der Anfang Dezember den Veteranenverein des SWR, »Ehre und Würde«, beschuldigte, eine Todesliste erstellt zu haben, auf der neben seinem eigenen Namen auch der von Litwinenko angeführt sei. In dessen Nachlass fand sich auch ein Schriftwechsel mit der Russin Julia Swetlitschnaja. Diese teilte der Presse mit, dass Litwinenko über belastendes Material gegen russische Oligarchen und die Geheimdienstführung in der Yukos-Affäre verfügt habe.