Einer geht noch rein

80 000 Menschen in Deutschland leben im Gefängnis. Fast alle Haftanstalten sind überbelegt. Eine Bestandsaufnahme von ron steinke

Die Zahl der Gefangenen im Verhältnis zur Wohnbevölkerung liegt in Deutschland im europäischen Vergleich im Mittelfeld. Seit Beginn der neunziger Jahre nimmt diese Rate aber deutlich zu. Abgesehen von Bremen, Brandenburg und Hamburg gibt es heute kein Bundesland mehr, dessen Gefängnisse nicht überbelegt sind. Insbesondere in den Gemein­schafts­zellen, in denen mehr als die Hälfte der Gefangenen untergebracht ist, wird es vielerorts eng. Das Saarland etwa meldet für diese eine Rekordauslastung von 199 Prozent.

»Es gibt Leute, denen macht es nichts aus, kurzfristig zu mehreren auf einer Zelle zu liegen«, erklärt Alfred Haberkorn, der als Thera­peut in der Jugendstrafanstalt Zeithain in Sachsen arbeitet. Meist ­nehme mit der größeren Nähe aber das Konfliktpotenzial zu. Die Ver­legung von Gefangenen in Gemeinschaftszellen habe dabei nicht immer nur mit fehlenden Kapazitäten zu tun. Eine adäqua­te Betreuung von suizidgefährdeten Häftlingen, wie sie das Anti-Folter-Komitee des Europarats bereits 2003 vor allem für den Jugendstrafvollzug gefordert hat, gibt es noch immer in den wenigsten Anstalten, stattdessen lautet das vermeintliche Patentrezept oft schlicht: Verlegung in eine Gemeinschaftszelle.

Rund 80 000 Menschen sind zurzeit in deutschen Vollzugsanstalten gefangen oder »verwahrt«, darunter etwa 4 000 Frauen. Die größte Gruppe unter den Gefangenen ist wegen Eigentumsdelikten inhaftiert, die zweitgrößte Gruppe, über 9 000 Häftlinge, sitzt wegen Drogendelikten ein – so viel wie wegen Sexual- und Kapitaldelikten zusammen. Die Enge in den überfüllten Haftanstalten lässt den Autonomieverlust der Gefangenen und die damit häufig verbundene Selbstentfremdung noch deutlicher spürbar werden, die eigentlich vorgesehene sozialpädagogische Betreuung kann vielerorts nicht mit dem Anstieg der Gefangenenzahlen Schritt halten. In der Jugendstrafanstalt Cottbus beispielsweise hat ein Sozialarbeiter 116 Gefangene zu betreuen.

Neben den seit Beginn der neunziger Jahre fast ausschließlich verschärften Strafgesetzen lässt sich die Überfüllung im Strafvollzug vor allem auf eine nachweisbar restriktivere Urteilspraxis der Strafgerichte zurückführen. Verurteilte dürfen mittlerweile seltener auf eine Bewährungsstrafe hoffen als noch vor zehn Jahren. Die Überbelegung wird zusätzlich dadurch verschärft, dass jährlich über 45 000 Personen zeitweise in Haft kommen, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlen können. Eine so genannte Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen gleichzeitig jeweils etwa 4 000 Menschen. Selbst im berüchtigten Gefängnis Hamburg-Fuhlsbüttel (»Santa Fu«) sind Menschen untergebracht, die eigentlich nur zu Geldstrafen verurteilt wurden.

»Für Häftlinge besteht im Strafvollzug pa­radoxerweise kaum eine Möglichkeit, auf die Entschädigung von Opfern oder die Tilgung sonstiger Schulden hinzuarbeiten«, kri­tisiert Ralph Horst Scheer, Strafgefangener in der JVA Bruchsal und ehemaliger Angehöriger der dortigen Gefangenenvertretung. Der mittlere Stundensatz für Gefangenenarbeit beträgt derzeit 1,37 Euro. Hiervon werden den Gefangenen allerdings nur drei Siebtel zur Verfügung gestellt, womit sie in der Vollzugsanstalt Kaffee, Tabak und Hygie­neartikel erwerben können – und theoretisch ihre Schulden abbauen, Unterhaltsver­pflichtungen bezahlen und Opfer entschädi­gen müssten. Die restlichen vier Siebtel des Lohns werden auf das so genannte Überbrü­ckungsgeld verbucht, das bei der Entlassung ausgezahlt wird.

Eigentlich sieht das Strafvollzugsgesetz für alle Häftlinge eine Arbeitspflicht vor. Die vermeintlich »bessernde« Wirkung regelmäßiger Lohnarbeit wird vom Gesetz so selbstverständlich vorausgesetzt, dass in Gefängnissen sogar eine Ausnahme vom verfassungsmäßigen Verbot der Zwangsar­beit gilt. Tatsächlich aber wären viele Gefangene froh darüber, eine Arbeitsstelle zu erhalten. Die anstaltseigenen Werkstätten haben vielerorts nicht genügend Plätze für alle Bewerber.

Die Arbeit in den anstaltseigenen Betrieben sollte ursprünglich zuvorderst therapeu­tischen Zwecken dienen. Der gestiegene finanzielle Druck auf die Gefängnisse, deren einzige Einnahmequelle im Regelfall die Werkstätten sind, stellt den Sinn dieser Einrichtungen jedoch inzwischen häufig auf den Kopf: Um die Produktivität der Werkstätten zu sichern, werden für vakante Jobs gerade diejenigen Häftlinge bevorzugt, die eine Arbeitstherapie selbst nach Ansicht des Betreuungspersonals nicht nötig hätten, sondern als besonders diszipliniert gelten.

Kaum ein Gefangener kann am Tag der Entlassung auf einen kleineren Schuldenberg blicken als zu Beginn der Haft. Die Chancen auf einen Arbeitsplatz in Freiheit sind gleich­zeitig verschwindend gering. Die dürftige Entlohnung im Strafvollzug und der Ausschluss der Gefangenen aus der Kranken- und Rentenversicherung schaffen damit ma­teriell eher die Voraussetzungen für Resignation als für Resozialisierung. »Viele erleben einen totalen Perspektivverlust«, sagt Ralph Horst Scheer.

Das Sparen im Strafvollzug macht sich auch in Reformvorhaben bemerkbar. Mit dem Versprechen, das Wegsperren von Gesetzesbrechern für den Steuerzahler günstiger zu machen, eröffnete die hessische Landesregierung im Dezember 2005 in Hünfeld das erste teilprivatisierte Gefängnis. Wäh­rend die rund 500 Gefangenen in Hünfeld weiterhin von staatlichen Bediensteten überbewacht und eingeschlossen werden, müssen sie sich nun für alles, was nicht als »hoheitlicher Eingriff« gilt, an die Angestellten des Betreiberkonzerns Serco wenden. Dieser betreibt die Küchen und Werkstätten, besorgt die Instandhaltung und Reinigung des Gebäudes und organisiert gar die psychologische und pädagogische Betreuung der Gefangenen.

Ein weiteres Absinken der Standards im Strafvoll­zug, vor dem die Kritiker der Teilprivatisierung gewarnt hatten, ist zumindest bislang ausgeblieben. Die Wiesbadener Strafverteidigerin Barbara Sauer-Kopic, die in Hünfeld mehrere Mandanten betreut und vieles an der »Vorzeigeeinrichtung« kritisiert, räumt ein, dass die Probleme, die die Gefangenen mit dem Gefängnispersonal haben, sich nicht merklich von anderen Anstalten unterscheiden. Allerdings: Wenn das Hünfelder Modell in anderen Bundesländern Schule macht – Berlin und Baden-Württemberg haben entsprechende Pläne bereits angekündigt –, könnte die Entwicklung bald politisch bemerkbar werden. In den USA, wo bereits viele Gefängnisse privatisiert sind, treten große Betreiberkonzerne inzwischen als gewichtige Lobbyisten für längere Freiheitsstrafen auf. Zum irrationalen Strafbedürfnis der Bevölkerung, das hierzulande ohnehin seit Beginn der neunziger Jahre die gesetzlichen Strafrahmen in die Höhe treibt, könnten also auf diese Weise künftig noch schlichte wirtschaftliche Interessen an harten Strafen hinzukommen.

Wer wirklich das Ziel verfolgt, möglichst wenig Rückfälle zu haben, müsste dabei genau das Gegenteil befürworten. In Dänemark, wo bisweilen 80 Prozent der Gefangenen im offenen Vollzug untergebracht sind und nur ihre Nächte hinter Gittern verbringen müssen, zeigt die Rückfallstatistik ein deutlich positiveres Bild als hierzulande.

Die vollkommen banale Erkenntnis, dass die Abgeschiedenheit des Gefängnisses kaum dazu geeignet ist, die Probleme von Häftlingen im Umgang mit anderen Menschen zu lösen, liegt eigent­lich auch dem deutschen Strafvollzugsgesetz zugrunde. Nach dem Gesetz sollte der offene Vollzug eigentlich den Regelfall darstellen. Zu mehr als einem Spruch im politischen Poesiealbum hat es diese Vorschrift jedoch in den fast 30 Jahren ihrer Geltung nicht gebracht. Vielleicht würde man sonst auch weniger über die Überfüllung im Strafvollzug sprechen als grundsätzlich über den Sinn des Gefängnisses.