»Eine Lobby für Gefangene wäre wichtig«

andreas werner von der Gefangenenzeitung Der Lichtblick glaubt nicht, dass die Überbelegung durch die Errichtung neuer Gefängnisse abgebaut werden kann

Andreas Werner ist seit fünf Jahren in der Justizvollzugsanstalt in Berlin-Tegel inhaftiert. Dort ist er verantwortlicher Redakteur der Gefangenenzeitung Der Lichtblick. Herausgeber der seit 1968 erscheinenden Zeitung sind die Insassen der JVA. Nach eigener Darstellung ist sie mit 5 500 Exemplaren sowohl die auflagenstärkste als auch die am längsten durchgängig existierende sowie die einzige unzensierte Gefangenenzeitung Deutschlands. Missstände im Gefängnis sind ein wichtiges Thema der Zeitung.

War oder ist der Vorfall in Siegburg, bei dem ein Häftling von seinen Zellengenossen zu Tode gefoltert wurde, ein Thema unter den Häftlingen in Ihrer JVA?

Das ist sicherlich ein Thema. Nach Auffassung der Häftlinge kann das in jeder anderen Anstalt auch passieren. Ähnliches ist auch hier in Tegel schon geschehen, bisher aber ohne so drastische Folgen, es gab noch keinen Todesfall. Aber insbesondere bei Mehrfachbelegung einer Zelle entsteht eine Eigendynamik, die für Außenstehende völlig unverständlich ist. Da kommt es manchmal zu Quäle­reien, Misshandlungen, absolut pervers und kaum vorstellbar.

Gab es in letzter Zeit konkrete Fälle von Gewalt zwischen Gefangenen?

Es existieren nur Gerüchte. Weil Gefangene untereinander oft die Klappe halten oder aus falscher Scham erst gar keine Anzeige erstatten und die Staatsanwaltschaft somit nichts davon mitbekommt. Aber unter den Gefangenen spricht es sich teilweise dennoch herum, was in manchen Häusern oder in manchen Hafträumen alles passiert ist.

Haben Sie den Fall Siegburg in Ihrer Gefangenenzeitung thematisiert?

Das war kein Thema und wird auch kein Thema für den Lichtblick werden. Nicht, dass uns das nicht interessieren würde, aber da das in einem anderen Gefängnis geschah, haben wir keinen Überblick, was genau passiert ist. Wir könnten auch nur in der Presse nachlesen, was andere Journalisten recherchiert haben, das kann aber jeder Gefangene genauso gut selber machen. Wir wollen nicht einfach von den Kollegen abschreiben, das ginge gegen unser Selbstverständnis als Zeitung und wäre unseriös.

Zurzeit wird in den Medien vermehrt über die Zustände in den Haftanstalten berichtet. Wie bewerten Sie die aktuelle Debatte?

Die Statistiken belegen eigentlich, dass insbesondere schwere Straftaten wie Mord und schwere sexuelle Misshandlungen in Deutschland rückläu­fig sind. Gleichzeitig steigen die Belegungszahlen in den Gefängnissen immer mehr an. Ein Grund dafür ist, dass die Haftstrafen immer länger werden. Dann kommt noch die Sicherungsverwahrung hinzu, sprich, das weitere Einsperren nach Ablauf einer offiziellen Strafe.

So wird der Eindruck erzeugt, dass es immer mehr Verbrechen und Gewalt gibt, wodurch draußen eine allgemeine Verunsicherung in der Bevölke­rung wächst. Das lässt sich von Politikern natürlich ausgesprochen gut instrumentalisieren, insbesondere in einer Zeit, in der viele Menschen wirtschaft­liche Probleme haben. Die Innenpolitiker können sich gut profilieren, wenn sie fordern, dass jene, die irgendetwas anstellen, möglichst lange im Gefängnis bleiben oder für immer weggeschlossen werden sollen.

Welche Unterschiede gibt es hinsichtlich der Haft­bedingungen in den verschiedenen Bundesländern?

Es ist allgemein bekannt, dass in Bayern die Gefängnisse weitaus strenger sind, dass es dort teilweise ziemlich hart zugeht. Nicht unter den Gefangenen, sondern rein von der Organisation und vom Tagesablauf her. Dort ist dann natürlich auch die Stimmung gereizter. Wenn Sie Menschen immer mehr einpferchen und in ihrem Leben beschränken, sie also immer mehr wie Tiere behandeln, dann verhalten sie sich auch eher wie Tiere. Wenn Sie einem Menschen mehr Freiheiten lassen und ihn als Menschen behandeln, dann bewegt er sich auch als Mensch.

Hier in Tegel haben wir fünf, sechs separate Häuser in der JVA. Zwischen diesen gibt es ein gewolltes Vollzugsgefälle. Der Umgang zwischen den Bediensteten und Häftlingen ist dementsprechend auch von Haus zu Haus unterschiedlich. Festzustellen ist, dass in den Häusern, wo ein Wohngruppenvollzug praktiziert wird, ein sehr gutes und lockeres Verhältnis zwischen Gefangenen und Bediensteten besteht. Man kann sich normal unterhalten, und keiner braucht Angst zu haben, dass einer dem anderen etwas antut. In den Zugangshäusern, wo die Leute am Anfang ihrer Haft in Tegel untergebracht werden, gibt es zum Teil sehr lange Verschlusszeiten. Die Gefangenen kön­nen sich nicht frei bewegen, und dementsprechend geht alles schon ein bisschen aggressiver, ein bisschen plumper zu.

Was sind die größten Probleme bei Ihnen?

Der Überbelegungsdruck wird hier, genau wie in den anderen Gefängnissen, von Jahr zu Jahr größer. Das führt dazu, dass immer mehr Hafträume für eine Mehrfachbelegung ausgebaut werden, dass immer mehr Häftlinge zusammen auf einer Zelle liegen. Zur gleichen Zeit gehen die finanziellen Aufwendungen für die Gefängnisse weiter zurück. Es gibt immer weniger Personal, wodurch die Resozialisierungsmöglichkeiten eingeschränkt werden. Irgendwann sind dann die Türen hier nur noch abgeschlossen. Dadurch schwinden auch die Perspektiven der Gefangenen, und es kann sich ja jeder selber ausmalen, was dann für Menschen hier aus dem Tor wieder rauskommen.

Sollte das Überbelegungsproblem durch den Bau neuer Haftanstalten gelöst werden?

Zurzeit werden ja schon immer mehr Gefängnisse gebaut, doch das führt nicht dazu, dass die bestehenden Gefängnisse entlastet werden. Auch hier in Berlin, wo noch ein neues Gefängnis hinzukommt, ist nicht davon auszugehen, dass sich dadurch die Lage verbessern wird. Ich glaube, es warten alleine in Berlin ungefähr 5 000 Verurteilte auf einen Stellungsbefehl. Wenn also ein Gefängnis mit vielleicht 800 Plätzen hinzukommt, wird dieses nur aufgefüllt und mit aller Wahrscheinlichkeit eine Über­belegung von zehn bis 15 Prozent haben, es wird die anderen Gefängnisse überhaupt nicht entlasten. Immer neue Gefängnisse zu bauen, ist sicherlich der falsche Weg. Damit wird lediglich ein völlig neuer Wirtschaftsbereich auf­gebaut, der bestimmt sehr lukrativ ist, aber für die Insassen bringt das keine Verbesserun­gen.

Was könnte stattdessen getan werden?

Wer ins Gefängnis kommt, hat draußen irgend­welche Defizite gehabt, irgendwas hat nicht funktioniert, so dass er zum Betrüger wurde oder dass es zu Gewaltausbrüchen kam. Irgend­etwas war nicht in Ordnung. Wenn er erst mal im Gefängnis ist, verliert er seine Wohnung, verliert seine sozialen Kontakte, die Ehefrau wird sich nach zwei oder drei Jahren von ihm trennen. Alles, was er sich angeschafft hat, geht verloren. Mancher hat laufende Ratenzahlungen, und wenn er rauskommt, ist er noch verschuldeter als vorher. Außerdem ist er dann vorbestraft und kriegt kaum noch einen Job. Das heißt, seine Bedingungen, in der Gesellschaft klarzukommen, sind nach der Haft extrem viel schlechter als vorher. Der Sinn der Inhaftierung sollte aber eigentlich sein, dass er danach in der Lage ist, ein Leben ohne Straftaten zu führen, dass er wieder eingegliedert wird in die Gesellschaft. Mit der Haft wird aber genau das Gegenteil erreicht, die Leute sind nicht nur nicht resozialisiert, sondern haben hinterher noch schlechtere Möglichkeiten als vorher. Es bedarf völlig neuer Strafkonzepte, die es Leuten ermöglichen, draußen bleiben zu können, ihren Job nicht zu verlieren.

Gibt es überhaupt Lobbygruppen für Gefangene, jemanden, der sich für ihre Belange einsetzt?

Theoretisch gibt es das in Form der Anstaltsbeiräte, die hier in Berlin vom Senat eingesetzt werden. Das sind ehrenamtlich Tätige, die auf­passen sollen, dass nichts Unrechtmäßiges passiert. Sie haben das Recht, jederzeit unangemeldet ins Gefängnis zu kommen, dürfen überall reinschauen und jeden aufsuchen. Zu­sätzlich zu den rechtlichen Möglichkeiten, die der einzelne Gefangene in Form von Beschwer­den und Klagen hat, haben die Anstaltsbeiräte also eine externe Überwachungsfunktion. Eigentlich eine sehr positive Einrichtung.

Leider funktioniert das in der Praxis nicht ganz so gut, wie es sich anhört. Teilweise sind diese Leute schon sehr lange an den einzelnen Anstalten tätig, wodurch die Sensibilität für die Probleme der Gefangenen verloren geht. Außerdem fehlt es manchen von ihnen an dem entsprechenden Durchsetzungsvermögen, um die Probleme dann auch wirklich anzugehen. Gerade in Situationen, in denen es etwas kritischer wird, also bei gröberen Vorfällen, die die Anstalt versucht zu deckeln, richten sie nur wenig aus, sondern geben sich meist schnell mit den Erklärungen der Anstaltsleitung zufrieden und ver­folgen die Sache nicht weiter. Insofern wäre eine Lobby für Gefangene schon wichtig, aber wer will sich schon für so eine kleine Minderheit, insbesondere da es sich um Häftlinge handelt, einsetzen?

Gibt es eine Art Selbstorganisation der Gefangenen untereinander? Bietet zum Beispiel Ihre Zeitung eine Grundlage für eine Vernetzung unter Gefangenen?

Das mit dem Vernetzen bringt relativ wenig. Es gibt zwar einige Gefängniszeitungen. Soweit ich weiß, sind wir aber in Deutschland die einzige Gefangenenzeitung, die noch unzensiert ist. Man lässt uns hier inzwischen weitgehend ungestört arbeiten. Alle anderen Zeitungen werden vom jeweiligen Anstaltsleiter herausgegeben. Wenn man sich die anschaut, dann findet man da nur Backrezepte für Käsekuchen, Kreuzworträtsel und ein paar nette Leserbriefe. Da gibt es keine Artikel über Missstände in der jeweiligen Anstalt, keine Vorschläge zur Verbesserung durch die Häftlinge. Das wird bei diesen Zeitungen alles von Seiten der Anstaltsleitung unterbunden, also zensiert.

Es ist sogar so, dass der Lichtblick in einigen anderen Gefängnissen nicht einmal verteilt werden darf, obwohl er presserechtlich zugelassen, also eine richtige Zeitung ist. Ich schätze, der Lichtblick ist den anderen Anstaltsleitungen einfach zu offen und spricht die Probleme zu direkt an und wird dort deshalb der Zensur unterzogen. Solange dem so ist, kann es auch keine durch Häftlinge selbst organisierte Lobbyarbeit auf größerer Ebene geben.

interview: benjamin engbrocks