Heute aktiv, morgen radioaktiv

Nach dem tödlichen Giftanschlag auf einen russischen Regimekritiker in London führen die Spuren nach Russland. Dort sind mysteriöse Vergiftungen nicht ungewöhnlich. von ute weinmann, moskau

Im Ägypten der Pharaonen und im Römischen Reich galt es in herrschenden Kreisen als lebens­verlängernde Maßnahme, einen Vorkoster zu beschäftigen. Potenzielle Opfer von Giftanschlägen in Russland hätten gute Gründe, ähnliche Maßnahmen zu ergreifen. Denn in den vergangenen Jahren kam es immer wieder zu mysteriösen Vergiftungen. Betroffen waren davon jedoch eher die niederen Ränge, so zum Beispiel Roman Zepow, ehemaliger Chef einer Security-Firma, die unter anderem für die Sicherheit der Familie des russischen Präsidenten Wladimir Putin sorgte. Oder aber Personen, die mit ihrer Berichterstattung Missfallen erregten, wie etwa der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der Novaya Gazeta, Jurij Schtschekotschichin. Die meisten Fälle, ob mit Todesfolge oder nicht, wurden nie vollständig aufgeklärt.

Das prominenteste Opfer ist der ehemalige russische Premierminister Jegor Gajdar, der am 24. November während einer Konferenz in Irland erkrankte. Seine Ärzte gehen davon aus, dass er vergiftet wurde. Einen Tag vor Gajdars Erkrankung starb Alexander Litwinenko, ein im britischen Exil lebender ehemaliger Offizier des russischen Inlandsgeheimdienstes FSB, in einem Londoner Krankenhaus. In der Leiche wurden Spuren des hochtoxischen und radioaktiven Polonium-210 nach­gewiesen. Litwinenko hatte das Gift vermutlich am 1. November in einem japanischen Restaurant oder in einem Hotel in London geschluckt. Nur wenige Länder mit einer entwickelten Atomindustrie verfügen über Polonium, was in diesem Fall zumindest theoretisch die Ermittlung der Herkunft erleichtert.

Die russische Generalstaatsanwaltschaft teilte mit, die ermittelnden Beamten von Scotland Yard beraten zu wollen. In den Medien hingegen wird eine gezielte Vergiftung Litwinenkos generell für abwegig erklärt. Ein russischer Experte für Antiterrormaßnahmen beispielsweise zweifelt die Poloniumvergiftung allein wegen des Umstands an, dass es sich dabei einzig um Ermittlungsergebnisse der britischen Behörden handelt. Genauso könne es sich um eine Fischvergiftung handeln, schließlich würden frei schwimmende Fische nicht auf Radioaktivität kontrolliert.

Die Lieblingsversion russischer offizieller Stellen, sofern sie sich überhaupt zu dem Fall äußern, ist eine ähnliche wie nach dem Mord an der Journalistin Anna Politkowskaja. Demnach sei der ehemals mächtige russische Oligarch Boris Beresowski für den Anschlag verantwortlich. Dieser hatte Litwinenko 1998 die Reise ins britische Exil ermöglicht und seither eng mit ihm zusammengearbeitet. Doch fehlt Beresows­ki ein Motiv. Allerdings wollte Litwinenko nach Angaben der Wissenschaftlerin Julia Svetlichnaja russische Oligarchen mit belastenden Geheimdienstdossiers erpressen. Feinde hatte er nicht nur im Kreml.

Russische Regierungskritiker wollen in dem Fall die Handschrift des stellvertretenden Chefs der Präsi­dial­administration, Igor Setschin, sehen, Putins treuem Weggefährten aus KGB-Zeiten. Ein Motiv könnte das Bestreben sein, die verbliebenen Gegner Putins vor den Wahlen im kommenden Jahr zu beseitigen oder einzuschüchtern.

Dem Guardian zufolge hält der britische Geheimdienst es für wahrscheinlich, dass »Schurkenelemente« im russischen Staatsapparat Litwinenko vergiftet haben, denn nur sie hätten sich Polonium aus einem staatlichen Nuklearlabor besorgen können. Eine Beteiligung der Regierung schließen die Ermittler aus.

Die Gründe dafür sind möglicherweise nicht kriminalistischer Art. Der britische Premierminister Tony Blair versprach zwar öffentlich, es werde »keine diplomatischen oder politischen Hindernisse« bei den Ermittlungen geben. Der Times zufolge sagte er zum Abschluss einer Kabinettssitzung über den Fall Litwinenko jedoch, »das wichtigste Thema« seien die langfristigen Beziehungen Großbritanniens zu Russland.