Bürger wehren sich

Wo sich die meisten rechten Übergriffe ereignen, sollten sich Demokraten zu einer »zivilen Bürgerwehr« zusammenschließen. von omid nouripour

In der vergangenen Woche rief mich eine Freundin an. »Du kennst dich doch in Berlin aus. Eine meiner Bekannten hat end­lich einen Ausbildungsplatz gefunden. Kann sie ihn annehmen? Er ist schließlich in Lichtenberg.« Warum sollte sie eigentlich nicht? Nun, sie ist afrodeutsch. Lichtenberg liegt in Berlin. Der Stadtteil gilt zwar nicht als »No-Go-Area«, aber ich habe geantwortet: »Es kommt darauf an, wo in Lichtenberg das ist und welche Arbeitszeiten sie da hat.« Willkommen in Deutschlands Hauptstadt im Jahr 61 nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft!

Nach jeder Landtagswahl in Ostdeutschland gibt es das große Erschrecken. Die Nazis sind wieder einmal reingekommen, egal ob sie nun DVU oder NPD heißen. Und egal, ob sie vorher parlamentarische Arbeit geleistet haben oder nicht. Hat jemand irgendeinen Gesetzesentwurf der brandenburgischen DVU aus der letzten Legislaturperiode in Erinnerung? Sie ist jetzt in der zweiten Legislaturperiode im Land­tag. Weiß jemand mehr über die NPD-Frak­tion in Sachsen, als dass sie Eklats provoziert, sich spaltet und im Verdacht steht, Steuermittel veruntreut zu haben? Würde heute in Sachsen der Landtag neu gewählt, sie wäre wieder drin. Ein flüchtiger Blick auf die Ursachen die­ser Wahlerfolge reicht, um von den Stimmenanteilen der Nazis nicht mehr überrascht zu sein.

In diesem Sommer haben die Reisewarnungen für »Dunkelhäutige« endlich eine größere Öffentlichkeit erreicht. Seitdem kann kein Konservativer mehr ernsthaft behaupten, wir hätten kein Problem am rechten Rand. Verfassungsschützer sprechen mittlerweile von »Pa­ral­lel­gesellschaften«, die es in allen ostdeutschen Bundesländern gibt. Dies bedeutet faktisch, dass die Nazis in bestimmten Kommunen die kulturelle Hegemonie übernommen haben oder sich zumindest im Mainstream der Gesellschaft bewegen.

Welche Konsequenzen müssen aus dieser Entwicklung gezogen werden? Die Zuständigen in der Justiz, der Verwaltung und bei der Polizei dürfen sich bei dem größer werdenden Problem nicht wegducken. Viele Zuständige haben in den vergangenen Jahren eine sehr gute Arbeit gegen Nazis geleistet, gerade bei der Polizei. Wer in der Sächsischen Schweiz, die partiell eine rechte Parallelgesellschaft ist, den einen oder anderen Polizisten kennen gelernt hat, konnte engagierte Demokraten erleben, die nicht weggeschaut, sondern gegen Kameradschaften gehandelt haben und täglich handeln. Aber es gibt noch immer zu viele, die das Nazi-Problem aus »Standorterwägungen« lieber verschweigen, als es offen anzugehen. Diese bewusst gewählte Ignoranz hat in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dass Nazis – ob in bürgerlichem Gewand oder in Springerstiefeln – hoffähig wurden. Wer vor zehn Jahren das Problem kleingeredet hat, braucht sich heute nicht zu wundern, dass es größer geworden ist.

Die Konsequenz für die demokratischen Parteien vor Ort ist, dass eine Strategie der Nichtbeachtung der Rechtsextremen nicht mehr funktionieren kann. Es ist nicht mehr möglich, Diskussionen mit den Nazis zu boykottieren, um sie zu marginalisieren. Sie sind nicht mehr marginal. Vielmehr muss die Diskussion offensiv angegangen werden. Dafür müssen die Parteien, aber auch Verbände, Gewerkschaften und Kirchen ihre Mitglieder fort­bilden, damit sie den simplen, polemisierenden Argumenten der NPD-Kader begegnen können. Wer schon einmal an einem Stammtisch über die »Ausländer-nehmen-uns-die-Arbeitsplätze-weg«-Nummer diskutiert hat, weiß, dass es dabei nicht unbedingt um Logik geht, sondern darum, diffuse Emotionen und Ängste gerade auch von Mitläufern anzusprechen.

Die Konsequenz für den Staat muss sein, all diejenigen, die an Ort und Stelle für die Schaffung demokratischer Strukturen arbeiten, zu unterstützen. Das Geschachere um die Finanzierung der zivilgesellschaftlichen Projekte gegen Rechts war sehr unwürdig, auch weil diese schon jetzt mit viel Bürokratie überhäuft werden. Trotzdem ist die späte Einsicht der Bundesregierung zu begrüßen, die Finanzierung der Projekte nun doch fortzusetzen, auch wenn man feststellen muss, dass dieser Sinneswandel leider erst durch den Einzug der NPD in den Schweriner Landtag eingeleitet wurde. Hinzu kommen müssen mobile Beratungsteams, Opfer­beratungs­stellen und Aussteigerprogramme. Aber auch das reicht einfach nicht aus.

Wir brauchen ein Bildungssystem, das den Respekt vor der Menschenwürde in den Mittelpunkt stellt. Außerdem brauchen wir eine neue Rechts­staatsdebatte. Im vergangenen Jahr gab es eine Anzeigenwerbung zur Einführung einer Handy-Flatrate. Die Überschrift lautete: »Tag der Redefreiheit«. Die Redefreiheit ist ein fundamentales Grundrecht, für dessen Einführung und Bewahrung viele Menschen weltweit ihr Leben gelassen haben und bis heute lassen müssen. In unserer Gesellschaft werden die hart erkämpften Rechte Einzelner, die unsere dünne zivilisatorische Decke ausmachen, für allzu selbstverständlich gehalten. Dies zu ändern, ist eine zentrale Aufgabe des Bildungssystems.

Wir brauchen eine Arbeitsmarkt-, Jugend- und Sozialpolitik, die jedem einzelnen Menschen das Gefühl gibt, dass er gebraucht wird. Damit ist nicht monokausal gemeint, dass Armut und Arbeitslosigkeit Nazis produzieren. Es gibt – zugespitzt formuliert – eine übergroße Mehrheit an Arbeitslosen in diesem Land, die immer mehr in die Perspektivlosigkeit fallen und dabei Antifaschisten bleiben. Aber wenn es darum geht, gerade die Unentschiedenen und die Mitläufer für die Demokratie zurückzugewinnen, dann ist es zentral, ihnen das Gefühl zu geben, dass sie dazugehören. Eben jenes Gemeinschaftsgefühl für die Demokratie zurückzuer­obern, das die Rattenfänger von rechts diesen Menschen auf Straßenfesten und an Stammtischen vorzuspielen versuchen.

Der Staat muss aber auch in vollem Umfang dafür sorgen, dass das Recht angewandt wird, ohne Wenn und Aber. Wir brauchen keine Verschärfung des Straf-, des Parteien- oder des Versammlungsrechts. Wir brauchen eine konsequente Anwendung des existierenden Rechts. Es kann nicht angehen, dass die NPD mit Steuergeldern Ausbildungs- und Schutzstrukturen für rechte Schläger finanziert. Es kann nicht angehen, dass Demonstrationszüge von Kameradschaften an jüdischen Friedhöfen vorbeiziehen. Und es kann nicht angehen, dass die Bundeskanzlerin halbherzig dabei ist, Gipfel zu veranstalten, anstatt sich der historischen Verantwortung zu stellen und den Kampf gegen Rechtsextremismus zur Chefsache zu erklären. Wir brauchen dringend ein gesellschaftliches Gesamtkonzept gegen den Rechtsextremismus. Und den Anfang muss Angela Merkel machen, vor allem, um in das konservative Milieu hineinzuwirken.

Die Konsequenz für die demokratische Zivilgesellschaft heißt: Sie muss den Nazis offensiv und geschlossen entgegentreten. Die Herrschaft über die Straße darf den Nazis nicht überlassen werden. Auch die agilste Polizei kann nicht überall gleichzeitig sein. An Brennpunkten rechter Umtriebe sollten sich Demokraten zu einer »zivi­len Bürgerwehr« zusammenschließen. Mit massiver Präsenz müssen sich De­mokraten vor die potenziellen Opfer rechter Angriffe stellen. Dabei geht es nicht darum, mit einem Baseballschläger herumzulaufen, sondern als Demokraten friedlich Masse zu zeigen. Das könnte auch Mitläufer der Rechtsextremisten abschrecken, kriminell zu werden. Gegen die Zumutung rechter Hetze und Androhung von Gewalt ist ziviler Widerstand ein absolut unverzichtbares Element der wehrhaften Demokratie.

Ein Freund erzählte mir, dass er sich in einem vollbesetzten Bus Nazis entgegengestellt hat, um einen belästigten Afrodeutschen zu schützen. Er hatte gehofft, dass ihm die vielen anderen im Bus beistehen würden. Seine Zivilcourage wurde mit einer gebrochenen Nase belohnt. Und er musste sich dem Vorwurf aussetzen, dass er sich ja nicht hätte einmischen müssen. So sehr sein Einsatz ihn ehrt – mit »ziviler Bür­ger­wehr« meine ich etwas anderes: Es geht nicht um spontane Aktivitäten, sondern um geplantes, mit den Sicherheitskräften abgestimmtes Vorgehen.

Schon jetzt ist es nicht ungewöhnlich, dass sich Menschen zusammentun, um an Brenn­punkten von Kriminalität in Kooperation mit der Polizei für mehr Sicherheit zu sorgen. Warum sollten sich die Demokraten nicht auch – zivil, koordiniert, in größerer Zahl – vor die Opfer rechter Gewalt stellen, die nicht nur »Ausländer«, sondern auch Alte, Behinderte, Obdachlose oder Andersaussehende sind?

Immer dann, wenn rechtsextreme Parteien bei einer Wahl dazugewinnen oder sich irgendwo ein rechtsextremer Übergriff ereignet, ist die öffentliche Empörung zu Recht groß. Aber die Frage »Was tun?« fällt dann schnell wieder auf den kleinen Kreis der Aktivisten und Engagierten zurück. Das ist eine fatale Situation, denn so kann keine gesellschaftlich verankerte Strategie gegen den Rechtsextremismus entwickelt und in die Tat umgesetzt werden.

Manche wiegen sich in falscher Sicherheit, wenn sie glauben, das Problem sei re­gio­nal oder auf bestimmte soziale und Altersgruppen beschränkt. Wir dürfen uns nicht täuschen lassen: Die Nazis arbeiten in Ost und West, sie fischen ihre Anhänger unter Jungen und Alten, unter Männern und Frauen. Umso nötiger ist ein deutliches Signal, damit die Rechtsex­tremen mit ihrer perfiden Strategie aus Folklorisierung und Einschüchterung scheitern. Natürlich wäre das diskutierte Verbot der NPD ein richtiger Schritt. Allerdings sind die notwendigen Hausaufgaben in den Ländern und im Bund noch nicht gemacht. Alles andere muss man sofort beginnen.

Omid Nouripour ist in Teheran geboren. Seit dem Jahr 2002 ist er Mitglied im Bundesvorstand der Grünen. Im September rückte er für Joschka Fischer in den Bundestag nach.