Patriotische Verblödung, ganz leicht gemacht!

Ségòlene Royal, die mutmaßliche Präsidentschaftskandidatin der französischen Sozialistischen Partei, demonstriert ihre Liebe zur Nation. Auch auf anderen Gebieten präsentiert sie sich als die bessere Konservative. von bernhard schmid, paris

Tote reden nicht besonders viel. Aber ihre zu Lebzeiten aufgezeichneten Äußerungen können manchmal im Nachhinein ziemliches Aufsehen erregen. Dies gilt etwa für das, was der im Jahr 2002 verstorbene französische Soziologe Pierre Bourdieu drei Jahre vor seinem Tod über die mutmaßliche Präsidentschaftskandidatin der Sozialistischen Partei sagte. Bourdieu hielt damals einen Vortrag über die Linke und die Rechte. Ende September sendete der kleine Fernsehsender Zaléa TV erstmalig eine Aufzeichnung von seinem Auftritt. Darin ging es auch um Ségolène Royal, die sich am Mittwoch voriger Woche als Präsident­schaftsanwärterin zur Urabstimmung der Mitglie­der des Parti Socialiste (PS) anmeldete. Das Mitgliedervotum findet am 16. November statt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird Royal dann zur Präsidentschaftskandidatin des PS für die Wahl im April 2007 bestimmt.

Bourdieu urteilte über die damals noch kaum bekannte Politikerin und Lebensgefährtin des so­zialdemokratischen Parteichefs François Hollande: »Für mich zählt sie nicht zur Linken. Sie hat einen Habitus, ein Auftreten, ein Benehmen, das Ihnen zeigt: ›Sie gehört zur Rechten.‹« Der Soziologe fuhr sogar fort, seines Wissens habe sich die junge Royal an der ENA – der Elitehochschule für Verwaltungswissenschaften, wo der Nachwuchs an Berufspolitikern und hohen Beamten gezüchtet wird – »die Frage der Wahl zwischen der Linken und der Rech­ten anhand von Karriereaussichten gestellt«. Damals habe sie sich für die Sozialdemokratie, die in Frank­reich lange zusammen mit der KP als »die Linke« galt und im Prinzip sogar immer noch gilt, entschie­den, weil im konservativen Lager scheinbar keine Plätze mehr zu erobern gewesen seien. Fakt ist, dass Royal an der ENA ihren langjährigen Lebensgefährten Hollande kennen lernte, was ihr den Anschluss an die Sozialdemokratie zweifellos erleichterte.

Royal hört intensivere Nachfragen zu ihrer politischen Orientierung gar nicht gerne. So stauchte sie Mitte September eine 23jährige Aktivistin der französischen Jungsozialisten, Nolwenn Yven, in der Öffentlichkeit fürchterlich zusammen. Die junge Frau hatte es gewagt, ihr die Frage zu stellen, »ob der Unterschied zwischen links und rechts« in ihren Augen wirklich von Bedeutung sei, um die Wahlen im Frühjahr 2007 zu gewinnen. Und sie nannte zur Illustration ein paar von Royals thematischen Aussagen, etwa ihr Eintreten für eine Abschaffung der Wohnortbindung für die öffentlichen Schulen.

Seit 1963 gilt in Frankreich die so genannte carte scolaire, mit der Eltern je nach Wohnort eine bestimmte Schule zugeteilt wird, sofern diese dem Schulzweig und Fächerkanon ihres Nachwuchses entspricht. Damit soll verhindert werden, dass wohlhabende Eltern ihre Kinder auf »bes­sere Schulen« in einer anderen Gegend schicken, um dem Proletennachwuchs aus der Nachbarschaft – etwa dort, wo in den Pariser Vorstädten Villenviertel unweit von Armensiedlungen liegen – zu entfliehen.

Die Konservativen betreiben seit Jahren eine systematische Kampagne dafür, dieses Wohnortprinzip zu streichen. Das würde bedeuten, dass die Schulen – vor allem die begehrten, besser ausgestatteten Anstalten – ihre Bewerber selbst aussuchen könnten. Aber auch die Sozialdemokratin Royal erklärte sich Anfang September bereit, die Wohnortbindung zumindest in Frage zu stellen.

Der heftige Rüffel, den Royal ihrer jungen Kritikerin wegen der Nachfrage erteilte, sorgte für einen kleinen Skan­dal. Ihre politischen Gegner nutzten die Gelegenheit, ihr schwache Nerven und mangelnde Souveränität vorzuwerfen. Am folgenden Tag rief Royal die Jungsozialistin aus Italien an, wo sie Mi­nisterpräsident Romano Prodi einen Besuch abstattete, und entschuldigte sich in aller Form. Das ließ sie auch sofort alle Zeitungen wissen. Aber ihr Berater Patrick Mennucci legte nach und bezeichnete die Bewegung der Jungsozialisten, die offizielle Jugendorganisation der Sozialistischen Partei, unter Anspielung auf ein altes Zitat von François Mitterrand als »Schule des Lasters«.

Royal ist von einigen französischen Medien, denen eine gewisse Meinungsführerschaft zukommt, systematisch zur femme présidiable, zur aussichtsreichen Präsidentschaftsanwärterin, ausgerufen worden. An erster Stelle ist hier die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde zu nennen, die ein gewisses Agenda­setting betreiben kann, da die Abendnachrichten der wichtigsten Fernsehkanäle ihre Themen oft nach der Hierarchie ihrer Schlagzeilen gewichten. Seit Herbst 2005 platziert die Zeitung Royal im Mittelpunkt des innerparteilichen und innenpolitischen Geschehens.

Politisch machte Royal bisher vor allem dadurch auf sich aufmerksam, dass sie versuchte, der Rechten – den Konservativen ebenso wie den Rechtsextremen – ihre Themen und Symbole zu klauen. Dabei geht es ihr um zweierlei: Erstens darum, sich während des Wahlkampfs nicht von rechts durch eine ideologisch aufgeladene Kampagne zum »Sicherheits­bedürfnis der Bürger« in die Defensive drängen zu lassen – so, wie es Lionel Jospin, ihrem Vorgänger als Präsidentenanwärter, vor vier Jahren passierte. Zweitens will sie die Wähler aus den Unterschichten, die in der Vergangenheit an die Rechtsextremen verloren gingen, zurückgewinnen. Deshalb eröffnete sie ihren innerparteilichen Wahlkampf am Mittwoch vergangener Woche in Vitrolles. Im Rathaus dieser Vorstadt von Marseille regierten von 1997 bis 2002 die Rechtsextremisten, danach wieder der PS.

Im Frühsommer regte Royal an, von Soldaten bewachte Erziehungsanstalten für straffällig gewordene Jugendliche einzurichten (Jungle World 23/2006). Auf der Großveranstaltung in Vitrolles hielt die »Kandidatin für die Kandidatur« die Nationalsymbole hoch. »Die Trikolorefahne und die Sozialsysteme, das Emblem der Republik und die Instrumente der Solidarität zementieren an erster Stelle die Zusammengehörigkeit. Denn bei uns, jeder weiß es, gehen das Nationale und das Soziale zusammen, und der Staat garantiert diese Allianz«, sagte sie. Damit redete sie natürlich keinem völkisch-rassischen Nationalismus das Wort, sondern einem in der Tradition des französischen republikanischen Nationalismus stehenden Denken, dessen Wurzeln sich bis zur Gründung der Republik 1792 zurückverfolgen lassen, das aber auch in der Résistance eine große Rolle spielte.

In derselben Rede wandte Royal sich auch ex­plizit dagegen, eine Unterscheidung zwischen Franzosen migrantischer und nicht-migrantischer Herkunft zu treffen. Dennoch hat sie de facto die patriotische Verblödung als Antwort auf die soziale Verunsicherung und die daraus resultierenden Zukunftsängste ausgegeben: »Je mehr die alltägliche und soziale Unsicherheit und die Prekarität an Terrain gewinnen, je mehr die Franzosen sich um ihre Nation und ihren Fortbestand sorgen, desto weniger können sie sich großzügig gegenüber den Ihren und gastfreund­lich gegenüber den anderen zeigen.«