Nach allen Seiten offen

Auch wenn die Meinungen über den Krieg im Nahen Osten weit auseinander gehen, kommt der EU bereits jetzt eine entscheidende Rolle bei der Konfliktbetreuung zu. von andré anchuelo

Stundenlang stritten die 25 Mitglieder des EU-Rats vergangene Woche in Brüssel um Nuancen bei der Formulierung ihrer Erklärung zum Nahost-Konflikt. Dahinter standen weitgehende politische Meinungsverschiedenheiten über den richtigen Weg, die Region zu befrieden und die politische Situation zu stabilisieren. Auf den ersten Blick scheinen die Differenzen bei den vorgeschlagenen Formulierungen lächerlich gering. Der Entwurf der finnischen EU-Ratspräsidentschaft, der sich an einer Vorlage orientierte, die die französische Regierung als Basis für eine Resolution des UN-Sicherheitsrats einbrachte, sah einen »sofortigen Waffenstillstand« als Grundlage für eine politische Vereinbarung vor. Anschließend sollten internationale Truppen zur Stabilisierung der Lage in den Libanon entsandt werden. Außerdem sollte Israel die »ernsthafte Verletzung internationaler Menschenrechte« vorgeworfen werden. Neben Frankreich unterstützte auch Spanien vehement diesen Vorschlag.

In der schließlich beschlossenen Version wird zunächst eine »Einstellung der Feindseligkeiten« gefordert, welcher dann ein »nachhaltiger Waffenstillstand« folgen solle. Im Anschluss beeilte sich der Vertreter der EU-Ratspräsidentschaft, der finnische Außenminister Erkki Tuomioja, zu versichern, aus Sicht der »bedrohten Menschen« gebe es »keinen Unterschied« zwischen »Waffenstillstand« und einem »Ende der Feindseligkeiten«. Sein französischer Kollege Philippe Douste-Blazy drückte die gleiche Haltung aus, indem er die rhetorische Frage stellte, was denn schon der Unterschied zwischen beidem sei. Die EU-Erklärung sei »ein wichtiger Schritt« und »ein wichtiger Sieg der französischen Diplomatie«.

Doch Douste-Blazy bekam eine Antwort auf seine Frage. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier erklärte, »Einstellung der Feindseligkeiten ist nicht dasselbe wie ein Waffenstillstand«. Unter erstgenanntem sei eine schrittweise Einstellung der Kampfhandlungen beider Seiten zu verstehen, wohingegen die Vereinbarung eines Waffenstillstands eine politische Frage sei, die erst später anstünde. Großbritannien, die Niederlande und Polen unterstützten die deutsche Haltung.

Zusammen mit Javier Solana, dem obersten außenpolitischen Beauftragten der EU, sorgten die deutschen Vertreter zudem dafür, dass die Verurteilung der Raketenangriffe der Hizbollah auf Israel im Text weiter nach oben rückte. Damit erhielten die Angriffe der Islamisten gegenüber der Verurteilung von Opfern unter der libanesischen Zivilbevölkerung und den UN-Beobachtern mehr Gewicht. Dies sei wichtig gewesen, um »gegenüber den Israelis eine gewisse Glaubwürdigkeit zu bewahren«, sagte ein deutscher Diplomat. Auch von einem Bruch des Völkerrechts durch Israel war am Ende nicht mehr die Rede. Allerdings schränkte die britische Außenministerin Margaret Beckett ein, mit der Erklärung gebe die EU keineswegs »grünes Licht« für Israel, mit der Offensive weiter zu machen.

Bedeutet der Streit im EU-Rat nun das Ende der in den vergangenen Jahren viel gepriesenen Achse Berlin-Paris? Ganz so einfach ist es nicht. Zwar hat sich die politische Linie unter Kanzlerin Angela Merkel den Positionen der Regierungen in den USA und in Israel erheblich angenähert. Doch vor allem zeigt sich an der unterschiedlichen Herangehensweise mal wieder eine genuin europäische Taktik. Denn einerseits ist es ein Nachteil, dass »sich immer 25 auf einen größtmöglichen Nenner einigen« müssen, der dann manchmal »sehr klein« sei, wie der Entwicklungskommissar der EU und ehemalige belgische Außenminister Louis Michel klagte. Andererseits kann man sich so die Arbeit teilen. Die einen betonen die Differenzen zu den USA und machen sich so bei den Arabern beliebt, die anderen profitieren von ihrem hohen Ansehen in Israel. Gemeinsam kann man dann zwischen allen anderen vermitteln.

Ausdruck dieser europäischen Arbeitsteilung ist auch das jüngste Gefeilsche um Formulierungen in Brüssel. Denn mit der Realität auf dem Kriegsschauplatz hat die Erklärung der EU tatsächlich wenig zu tun. Die libanesische Hizbollah, unterstützt von Syrien und dem Iran, wünscht ein sofortiges Ende der israelischen Gegenoffensive ohne eigene Zugeständnisse, um sich im Anschluss unter dem Schutz internationaler Truppen reorganisieren zu können. Die israelische und die US-amerikanische Regierung wollen dagegen, dass die Hizbollah zurückgedrängt und weitgehend entwaffnet wird, um dann die Fortführung und Absicherung des Befriedungsprozesses den multilateralen Streitkräften zu überlassen.

So weit hat man es mit ziemlich offensichtlichen Interessengegensätzen zu tun. Die Vorstellungen der Hizbollah laufen auf eine Wiederherstellung des Status quo ante hinaus. Die israelische Regierung, für die die Angriffe auf ihr Territorium nicht mehr länger tragbar gewesen sind, träumt hingegen von einer Wiederherstellung der früheren Sicherheitszone. Zudem will das Land die politischen und finanziellen Kosten einer erneuten Besatzung vermeiden, indem es die Aufgabe einer europäisch geführten Truppe überlässt. Das hätte zugleich den Vorteil, dass sich die Hizbollah zukünftig mit den Europäern selbst anlegen würde.

Damit es tatsächlich zu einer multinationalen Truppe unter Führung der EU kommen kann, müssen die beschriebenen Interessengegensätze für eine notwendige UN-Resolution diplomatisch zugekleistert werden. Ein wichtiger Schritt dahin waren die Verhandlungen im EU-Rat vergangene Woche. Die entscheidenden Weichen aber werden in New York gestellt, wo im UN-Sicherheitsrat vor allem die USA und Frankreich ihre unterschiedlichen Vorstellungen auf einen Nenner bringen müssen. Frankreich und die EU sind dabei in einer starken Position. Denn sowohl Israel als auch die USA wollen ein »robustes Mandat«, doch die USA können sich daran kaum beteiligen. Das Interesse des Landes gilt wegen seines Eintretens für Israel und vor allem wegen seines Engagements im Irak als einseitig. Amerikanische Truppen wären deshalb innerhalb kürzester Zeit die erste Zielscheibe der Hizbollah und anderer Islamisten. Letztlich kommt aus militärischen und politischen Gründen nur Frankreich für die Führungsrolle in Frage. Entsprechend komfortabel ist die Verhandlungsposition des Landes.

Auch eine deutsche Beteiligung an einer multinationalen Truppe wird diskutiert. Der israelische Ministerpräsident Ehud Olmert sagte, er wünsche sich dabei eine »Beteiligung deutscher Soldaten«. Ob die deutsche Regierung diesen Persilschein unmittelbar in Anspruch nimmt, darauf kommt es schon gar nicht mehr an. Wichtig ist, dass sie es könnte – den gefährlichen Rest dürfen auch gern die Franzosen erledigen.