Die Macht bleibt in der Familie

Die Übergabe der Amtsgeschäfte hatte Fidel Castro vorbereitet. Dennoch erwarten viele Exilkubaner, dass seine Erkrankung den Sturz der Regierung einleitet. von knut henkel

In den Straßen Havannas ist es total ruhig. Alles geht seinen gewohnten Gang«, sagt Oscar Muñoz, ein privater Zimmervermieter, dessen Haus in der Nähe des Platzes der Revolution steht. Nur einige Straßenzüge weiter nördlich wohnt Oswaldo Payá, Kubas wohl bekanntester Dissident. Payá, Repräsentant des Proyecto Varela, sammelt mit seinen Anhängern landesweit Unterschriften für ein Referendum, das einen friedlichen Übergang in Kuba ermöglichen soll.

Für den »Erhalt des sozialen Friedens« in Kuba trat Payá auch Ende der vergangenen Woche ein, vier Tage nachdem Kubas fast 80jähriger máximo líder mit heftigen Magen-Darm-Blutungen ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Exilorganisationen, aber auch US-amerikanische Kongressabgeordnete nutzten dagegen die Gelegenheit, um die Bevölkerung der Insel zum Umsturz aufzufordern. Und sofort setzte die Diskussion um die Nachfolge für die Ikone der kubanischen Revolution ein.

Doch Fidel Castro hatte persönlich alles vorbereitet und per Proklamation verfügt, dass alle Ämter vorübergehend von seinem fünf Jahre jüngeren Bruder übernommen werden. Die entsprechende Erklärung verlas sein Privatsekretär Carlos Valenciaga im kubanischen Fernsehen, während Castro bereits auf dem Operationstisch lag. Der Erklärung zufolge ist Castro ein Opfer seines Arbeitsprogramms. Die Reise nach Argentinien zum Merco­sur-Gipfel Ende Juli hätte ebenso wie die Feierlichkeiten zum 26. Juli, dem Jahrestag des Beginns der Revolution, dazu geführt, dass er »ohne Unterbrechung Tag und Nacht gearbeitet hätte«. Extremer Stress habe zu den Magen-Darm-Blutungen geführt, so die Erklärung.

Doch woran der Comandante wirklich leidet, ist vollkommen unklar. Magenblutungen aufgrund von Stress sind Medizinern zufolge durchaus möglich, doch nicht nur unter Exilkubanern in Miami wird über eine mögliche Krebserkankung spekuliert. In Kuba wird der Gesundheitszustand des máximo líder wie ein Staatsgeheimnis behandelt. Nur tröpfchenweise sickern Informationen nach draußen. So gab Fidel Castros jüngere Schwester Juanita in Miami bekannt, dass man sie angerufen und berichtet habe, der große Bruder sei von der Intensivstation auf die normale Station verlegt worden und der Heilungsverlauf positiv.

Während in Miami anscheinend wieder einmal vorschnell der »Auftakt zum Ende der Tyrannei« ausgerufen wurde, sicherte US-Präsident George W. Bush den Kubanern am Donnerstag der vergangenen Woche seine Unterstützung für den Übergang zu. Gleichzeitig forderte er sie aber auf, »auf eurer Insel zu bleiben«, weil in den USA eine Flüchtlingswelle befürchtet wird.

Bei den Exilanten in Miami kamen diese Töne aus dem Weißen Haus nicht gerade gut an, denn dort hatte Castros Intimfeind, der exilkubanische Kongress­abgeordnete Lincoln Díaz-Balart, bereits zum zivilen Ungehorsam, und Jorge Mas Santos, der Präsident der einflussreichsten Exilorganisation CANF, zum Umsturz aufgerufen. Dies könne eine »militärische oder auch zivile Erhebung« sein. Doch in Kuba ist es auch in den folgenden Tagen ruhig geblieben.

Viele Kubaner, und nicht nur die Älteren, sind jedoch beunruhigt, weil sie befürchten, dass es über kurz oder lang zu Kämpfen um die Macht kommen könnte, wenn die Integrationsfigur Fidel Castro nicht wieder an ihren Schreibtisch am Platz der Revolution zurückkehren kann. Diese Angst wird auch von der kubanischen Regierung geschürt. Im staatlichen Fernsehen wurde gewarnt, dass man die Bevölkerung um die Früchte ihrer Revolution bringen wolle.

Typische Parolen, die aber immer noch ziehen. Verantwortlich dafür machen viele Dissidenten die militante Rhetorik der Exilkubaner und das Insistieren der US-Regierung auf einen baldigen regime change. Auf sie kann die kubanische Regierung verweisen, wenn sie die alten Parolen von einer drohenden Invasion und der Beschlagnahme von Wohnhäusern wie Kliniken wieder ausgräbt, sagte Oswaldo Payá gegenüber Journalisten am Donnerstag der vergangenen Woche in Havanna. Seit Jahren wirbt er für den friedlichen Wandel, doch er ist sich gar nicht so sicher, dass die Übergabe an Rául Castro der Auftakt zum Wandel ist.

Das denkt auch Tania Quintero, Journalistin und Dissidentin, die vor über zehn Jahren gemeinsam mit Rául Rivero die erste unabhängige Presseagentur in Havanna aufbaute. »Fidel wird bei der Eröffnung des Gipfels der Blockfreien im September wieder auftauchen«, prognostiziert die derzeit in Luzern lebende 62jährige Journalistin, während weltweit die Spekulationen über das von Raúl Castro angeführte Schattenkabinett kursieren.

Das Kabinett ist die erste Wahl für die Nachfolge des máximo líder und darf nun erst einmal auf Probe regieren. Der Verteidigungsminister und Oberkommandierende des Militärs Raúl Castro wird oft als Hardliner bezeichnet, aber in den Zeiten der härtesten wirtschaftlichen Krise zu Beginn der neunziger Jahre handelte er pragmatisch. Raúl genießt einigen Respekt in Havanna. »Er hat die Armee reformiert, die seitdem ökonomisch sehr effektiv ist, und viele Elemente dieser Reformen wurden in anderen Sektoren der Wirtschaft übernommen«, erklärt Zimmervermieter Oscar.

Und der Wirtschaft geht es derzeit so gut wie lange nicht mehr. Die 11,8 Prozent Wirtschaftswachstum sind nicht allein auf die Hilfen aus Venezuela und die Kooperation mit China zurückzuführen, sondern auch auf den anhaltenden Tourismusboom und die hohen Nickelpreise. In der Region ist Kuba wegen der guten Beziehungen zu Uruguay, Argentinien, Brasilien, Bolivien und Venezuela so gut integriert wie schon seit langem nicht mehr.

Das wären eigentlich gute Vorraussetzungen für die geordnete Übergabe der Macht, und Castro selbst hat die Diskussion um seine Nachfolge vor einigen Monaten persönlich angeschoben. Im November vergangenen Jahres schnitt Castro das Thema während einer Rede an der juristischen Fakultät von Havanna an. Außenminister Pérez Roque übernahm es dann, die Debatte über das »Überleben der Revolution« weiterzutragen.

Spät ist Castro in die Offensive gegangen, um seinem Alptraum von der Rückkehr und Übernahme der Insel durch die Gusanos, die Würmer, aus dem Exil zu verhindern. Und in den vergangenen Monaten hat er nicht nur bei Jugendveranstaltungen verstärkt für seine Revolution und deren Überleben geworben. Doch der alte Mann hat wenig anzubieten. Zwar ist die kubanische Wirtschaft gewachsen, aber die Lebensbedingungen in Havanna und anderen Teilen des Landes sind weiterhin alles andere als rosig. Daran wird der kubanische Staatschef genauso wie die potenziellen Nachfolger gemessen, nicht an den sozialen Errungenschaften der sechziger und siebziger Jahre. Das Gesundheits- und Bildungssystem funktioniert zwar leidlich, aber in den staatlichen Betrieben wird systematisch gestohlen und sich bereichert. Vor der viel beschworenen sozialistischen Moral ist wenig zu spüren. Das weiß auch der máximo líder, und an diesem Dilemma wird er genauso wie die Übergangsführung um Raúl kurzfristig kaum etwas ändern können.