Wie viel Unsinn darf es sein?

Fußfesseln für Schulschwänzer, keine Hüftgelenke für Alte, Arbeitsdienst für Arbeitslose: Die Funktion solch vermeintlich abwegiger Vorschläge untersucht felix klopotek

Ständig diese Nervereien: Mit schöner Regelmäßigkeit kursieren »Ideen«, »Vorschläge«, »Interventionen«, »Debattenbeiträge«, wie Deutschland wieder vorangebracht werden kann. Das Schema ist immer das gleiche. Es geht um eine Problemgruppe (Schüler, Ausländer, Arbeitslose, Alte), die so groß oder wichtig ist, dass man sie nicht unberücksichtigt lassen kann. Man macht sich ja wirklich Sorgen um die Leute, deshalb sind die rabiaten Maßnahmen, die man sich für sie ausgedacht hat, immer auch ein Akt der Integration und des demokratischen Diskurses. Die Zumutungen kommen aus der Grauzone der politischen Szene; sie sind nie so schmuddelig, dass sie von vornherein als irrsinnig und durchgeknallt abgetan werden, sie kommen aber auch nie aus dem Zentrum der Regierungsgewalt, sind eher Drohungen als Verlautbarungen.

So blieb es dem brandenburgischen Innenminister Jörg Schönbohm überlassen, elektronische Fußfesseln für »extrem kriminelle Schulschwänzer« zu fordern. Es war der CDU-Nachwuchspolitiker Philipp Missfelder, der vor drei Jahren nichts davon hielt, dass »85jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen«. Natürlich werden diese Vorschläge nicht realisiert, sie werden als Verletzung der Grundrechte und als rechtskonservativer Populismus gebrandmarkt. Dennoch sind diese Zumutungen seriös genug, um bereitwillig diskutiert zu werden.

Im öffentlichen Diskurs gilt es als anrüchig und heikel, allzu ausführlich über die politischen Forderungen der Neonazis zu reden, weil, so die phrasenhafte Begründung, jede Aufmerksamkeit, welche die Schläger erhalten, die friedlich-tolerante Mehrheit diskriminiert und die Neonazis aufwertet. Niemand käme aber auf die Idee, dieses Tabuschema zum Beispiel auf den jüngsten Vorschlag Stefan Müllers, des Vertreters der CSU im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Bundestages, anzuwenden, der vor zwei Wochen einen »Gemeinschaftsdienst für Langzeitarbeitslose« forderte. Niemand würde die Diskussion, die auf die Äußerungen Müllers hin heftig entbrannt ist, sofort mit dem Hinweis abwürgen, die Idee eines solchen Gemeinschaftsdienstes spiele nur den NPD-Kadern in die Hände.

Selbstverständlich fahren – vor allem linksdemokratische – Politiker den Nazivergleich auf. Petra Pau von der Linksfraktion sprach von einem »Rückgriff auf den Arbeitsdienst im Dritten Reich«. Nazivergleiche gehören fest zum Inventar des demokratischen Diskurses. Mit einem solchen Vergleich soll niemand in die Nähe der NPD gerückt werden, die Aussage ist schlicht: Da hat jemand über die Stränge geschlagen. Der Nazivergleich reizt die Angstlust des Politikbetriebes an.

Der Status solch rabiater Vorschläge ist paradox: Sie sind akzeptiert (sie dürfen geäußert werden), gleichzeitig sind sie chancenlos. Was steckt dahinter? Profilierungsgehabe (je provokanter ich mich geriere, desto bekannter werde ich)? Listiger Populismus (mit markigen Sprüchen ziehen wir die potenzielle Wählerschaft der NPD auf unsere, die demokratische Seite)? Authentischer Ausdruck deutscher Weltanschauung (Schönbohm, Missfelder und jetzt Müller meinen es also wirklich ernst)? Vielleicht, vielleicht auch nicht.

Dem höheren Sinn all dieser vermeintlich oder tatsächlich irrsinnigen Vorschläge kommt man auf die Spur, wenn man von den persönlichen Motiven der Poltiker absieht und sich stattdessen die realen Verhältnisse anschaut. Zum Beispiel die Fanmeilen, Orte des puren Hedonismus. Die Bedingungen des Spaßes werden direkt mitgeliefert. Wer sich die Mühe macht, ein wenig hinter die Kulissen zu schauen, entdeckt die geballte staatliche Macht, die Nebenstraßen sind voll mit Einsatzkommandos der Polizei. Unauffällig, doch stets sichtbar. Das dient noch nicht mal der Abschreckung, denn das würde voraussetzen, dass dort eine konfrontative Stimmung herrscht. Es ist eher die Beschreibung einer Möglichkeit, die Demonstration von Macht. Alles ist friedlich und ganz locker, aber wehe, wenn welche ausscheren.

Im politischen Geschwätz sind es die vermeintlich populistischen Ausrutscher, die geforderten Integrationstests und verweigerten Hüftgelenke, die das Feld der Möglichkeiten abstecken. Seht her, so angespannt ist die Situation der Solidargemeinschaft, dass wir schon über eine Entwertung menschlichen Lebens reden müssen. Jörg Schönbohm mag völlig falsch liegen, aber dass etwas an unseren Schulen nicht in Ordnung ist, das ist doch klar!

Die Provokationen haben einen ebenso disziplinierenden Effekt – wenn es sein muss, sind die Politiker bereit, bis zum Äußersten zu gehen, die Maßnahmenkataloge liegen schon in der Schublade – wie einen Trost spendenden: Hier nimmt jemand das Ressentiment der gefühlten Mehrheit ernst! Wenn es doch einmal ganz schlimm kommt (vulgo: durchregiert wird), dann sind die Betroffenen selbst daran schuld, ihr mögliches Schicksal ist in den grellen Bildern bereits formvollendet beschrieben.

Diese Provokationen haben etwas mit dem Komplex »Brot und Spiele« zu tun. Sie sind Spektakel, aber nicht nur; sie gehen einher mit tatsächlichen Maß­nahmen, etwa der staatlich verordneten Lohndrückerei. Sie wirken nicht nur nach außen – gleichzeitig Anstachelung wie Gängelung des Mobs –, sondern auch nach innen. Was hat Stefan Müller genau gesagt? »Alle arbeitsfähigen Langzeitarbeitslosen müssen sich dann jeden Monat bei einer Behörde zum ›Gemeinschaftsdienst‹ melden und werden dort zu regelmäßiger gemeinnütziger Arbeit eingeteilt – acht Stunden pro Tag, von Montag bis Freitag.« Das ist nicht der Ton eines durchgeknallten Populisten. Das sind ernst gemeinte und durchaus realistische Überlegungen zur Schaffung eines dritten oder vierten Arbeitsmarktes, der rundum staatlich betreut wäre. Zieht man das Aufgekratzte an Müllers Forderung ab, muss nur noch abgewogen werden, inwiefern ein staatlich geschaffener und alimentierter Niedrigstlohnsektor nicht die anderen Arbeitsmärkte in einen Abwärtssog reißen würde und so letztlich die staatlichen Regulierungskünste überstiege, weil immer mehr Menschen in die ständig mobilisierte Reservearmee abwandern würden.

Das Problem an Müllers Vorschlag ist also, dass er zu sehr in der Perspektive des aktiv eingreifenden Staates gedacht ist, echt sozialdemokratisch übrigens. Das unterscheidet seinen Vorschlag von einem ebenfalls aktuellen Einfall des realsozialdemokratischen Arbeitsministers Müntefering: Der hat die »Initiative 50plus« gestartet, die der Verbilligung der Arbeitskraft älterer Lohnabhängiger dient. Die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I für Arbeitslose über 55 wird verringert, Firmen, die Arbeiter über 50 anstellen, erhalten zahlreiche Zuschüsse und Vergünstigungen, während gleichzeitig für diese Leute der Kündigungsschutz nur noch eingeschränkt gilt (»erleichterte Befristungsregelungen ab dem 52. Lebensjahr«, heißt es im nüchternen Regierungsjargon).

Das klingt weder populistisch noch nach staatlicher Regulierungswut und wurde folglich kaum diskutiert. Es bedeutet aber eine weitere Lohnkürzung. Man muss nicht paranoid sein, um Äußerungen wie die von Stefan Müller auch als Ablenkung zu verstehen.