Deutschland über alles

Die patriotische Stimmung im Lande ist nicht so harmlos, wie viele behaupten. Das musste auch die GEW erfahren, als sie das Deutschlandlied kritisierte. von gaston kirsche

Deutschlandtrikots, Fahnen mit oder ohne Stock, Bierflaschen: Auf dem Weg zum Fanfest in Hamburg, wo Zehntausende in der vorigen Woche den deutschen Sieg über Ecuador feiern wollen, steigen überdrehte Jugendliche in die U-Bahn. Die Station Barmbek liegt nicht in einem Szeneviertel, aber noch in der Hamburger Innenstadt. 50 Meter vom Bahnhof entfernt hat die NPD kurz zuvor auf der belebten Einkaufsmeile Fuhlsbüttler Straße ihren samstäglichen Stand aufgebaut, ohne dass es zu Protesten gekommen wäre.

Im U-Bahn-Waggon wird es laut: »Wir, wir sind die Nummer eins, die Nummer eins der ganzen Welt – Deutschland!« Einige Fahrgäste grölen nicht mit, sondern ertragen stumm die Situation. Dann wird im Takt gehüpft: »Wer nicht hüpft, ist kein Deutscher!« Der Waggon schaukelt. »Zieht den Polen den Spargel aus der Hand, Spargel aus der Hand!«, singen die Fans.

An der nächsten Station versuchen drei farbige Schüler einzusteigen. Die Türen werden zugehalten. »Ecuador ist Scheiße!«, wird angestimmt. Als Fans von Ecuador einsteigen wollen, tönt es: »Ihr könnt nach Hause fahren!« und »Ihr seid Scheiße!« Der Zug bleibt in der Hand deutscher Fans. Das nächste Lied ertönt: »Die Nutten freuen sich jetzt, denn wir sind Hamburger Jungs, Hamburger Jungs, wir sind Hamburger Jungs!« Als dann auch noch die blau-schwarz-weiße Raute des Hamburger Sportvereins besungen wird, ist klar: Hier sind bundesligaerprobte Männer zugegen. Frauen sind auch dabei und laufen mit.

Überall in der Stadt sind die Farben Schwarz, Rot und Gold zu sehen. Auf Balkons, an Auto­türen, in Auslagen von Bäckereien. Die Uniformiertheit, der Zwang und der Wunsch, sich zur Deutschlandfahne zu bekennen, sind allgegenwärtig. »Fahnen, Trikots und Schals sind in vielen Geschäften bereits ausverkauft«, berichtete in der vergangenen Woche Hubertus Pellengahr, ein Sprecher des Deutschen Einzelhandelsverbandes.

Je trister die Wohngegend, desto mehr Fahnen sind zu sehen, besonders an lauten Hauptverkehrsstraßen und an Hochhäusern. Wo eh kein Licht durchs Fenster kommt, kann man ja eine deutsche Fahne drankleben. Mitmachen, endlich einmal dazugehören wollen, scheint die Devise zu lauten. Auch für die drei Alkoholiker, die auf einer Parkbank sitzen: Sorgfältig drapiert hängt die deutsche Fahne hinter ihnen an einem Busch. Sie tragen die gleichen Farben stolz vor sich her wie die Hamburger Geschäftsleute im Yachthafen, die distinguiert etwas mehr Schwarz-Rot-Gold auf ihrem Boot zeigen als die vorgeschriebene Fahne des Herkunftslandes. Auch ehemals besetzte Häuser im Stadtteil Eppendorf sind national dekoriert. Wo früher jahrelang »Leerstand« geschrieben stand, als noch gegen die Immobilienspekulation protestiert wurde, hängen nun Deutschlandfahnen.

Der Wille zum gleichförmigen Jubel wird immer grotesker: Im Feierabendstau fangen plötzlich viele Autofahrer mit dem vom Autokorso bekannten Gehupe an. Die zahllosen fußballdeutschen Werbemotive auf Plakatwänden spiegeln und verstärken die Begeisterung noch.

Die einzige öffentlich wahrnehmbare Kritik am Deutschlandkult kam von der Bildungsgewerkschaft GEW, deren hessischer Landesverband die fundierte Broschüre »Argumente gegen das Deutschlandlied – Geschichte und Gegenwart eines furchtbaren Lobliedes auf die deutsche Nation« aus dem Jahr 1989 aus gegebenem Anlass wieder aufgelegt hat. Der Vorsitzende der GEW Ulrich Thöne verfasste mit dem hessischen Kollegen Jochen Nagel ein neues Vorwort. Darin ist zu lesen: »Die heutige Stimmung, dass wir jetzt erst recht ›wieder wer sind‹, und doch seit 1990 weitere 16 Jahre zur Zeitspanne 1933 – 1945 vergangen sind, also ein angeblich natürlicher ›Patriotismus‹ angesichts der gesellschaftlichen Probleme die richtige Antwort sei, all das ist uns nicht unbekannt. Als Bildungsgewerkschaft GEW treten wir ganz bewusst und ganz ausdrücklich solchen Stimmungen der deutschen Leitkultur entgegen.«

Die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Benjamin Ortmeyer, der Autor der Broschüre, erhielt Drohbriefe mit antisemitischem Inhalt. Und Politiker fühlten sich bemüßigt, den »neuen Patriotismus« gegen Kritik zu verteidigen. »Die Stimmungsmache gegen unsere Nationalhymne ist in der Sache abwegig und für eine Lehrergewerkschaft geradezu peinlich«, sagte der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag Wolfgang Bosbach (CDU). »Patriotismus ist Vaterlandsliebe. Und: Vaterlandsliebe ist eine gute Sache«.

Der Generalsekretär der CSU Markus Söder glaubt zu wissen, wo die vaterlandslosen Gesellen sitzen: »Es ist wieder typisch, dass linke Besserwisser den Deutschen ihre Freude nehmen wollen.« Er meinte, die WM trage auf »sympathische Weise zu einem aufgeklärten Patriotismus bei, den Deutschland gut brauchen« könne. Der Vorsitzende der Berliner FDP Martin Lindner nannte die Kritik am Deutschlandlied einen »hirnverbrannten Schwachsinn«. Er sagte: »Meinetwegen kann die GEW bei ihren Sitzungen die Internationale singen. Aber sie sollen den Rest des Landes in Ruhe lassen.«

Für Theo Zwanziger, den Präsidenten des Deutschen Fußballbundes, ist die Kritik am Deutschlandlied »skandalös«. Er beschwert sich: »Wir freuen uns in ganz Deutschland über den Beginn der Normalität, nur diese Leute bekommen das nicht mit.« Es sei »völlig in Ordnung, wenn bei uns ›Einigkeit und Recht und Freiheit‹ gesungen wird«, betonte er.

Im hessischen Landtag kam es in der vorigen Woche zu einer aufgeregten Debatte, in der sich ausnahmslos alle Parteien, die CDU, die FDP, die SPD und die Grünen, von der Kritik am Deutschlandlied distanzierten. Alle Rednerinnen und Redner freuten sich darüber, dass Deutschland zu einem unverkrampften Umgang mit nationalen Symbolen gefunden habe.

Die freidemokratische Abgeordnete Ruth Wagner sagte, es sei die Pflicht eines Lehrers, den fortschrittlichen Gehalt des Deutschlandliedes zu kennen, und stellte während ihrer Rede eine Deutschlandfahne aufs Rednerpult. Hessens Kultusministerin Karin Wolff (CDU) nannte die Broschüre der GEW »unerträglich«. Die grüne Abgeordnete Margaretha Hölldobler-Heumüller entschied sich, in der Landtagssitzung als deutsche Ganzkörperfahne aufzutreten, und kombinierte ein schwarzes Kostüm mit roter Bluse und sonnenblumengelbem Halstuch.

Hier herrscht fröhlicher Patriotismus, verstanden! So fröhlich, dass die GEW umgehend nachgab. Am vergangenen Donnerstag sagte Thöne, die Broschüre sei nur für den internen Gebrauch bestimmt. Er entschuldige sich dafür, dass der Eindruck erweckt worden sei, die Gewerkschaft wolle den Fans die WM verleiden oder gar das Deutschlandlied verbieten. »Wenn heute junge Fußballfans die Nationalhymne singen, tun sie das aus Lebensfreude und zur Unterstützung der deutschen Nationalmannschaft.«

Die Hamburger Schulbehörde hat indessen angekündigt, dass künftig alle Schüler frühzeitig den Text und die Melodie der Nationalhymne lernen sollen, und zwar im Fach Musik in der Grundschule. Das passt allerdings gut, denn vom Nationalsozialismus haben die Schüler in diesem Alter noch nichts gehört.