Die Welt bleibt, wo sie ist

deniz yücel sind es ein paar Groschen nicht wert, sein Hab und Gut zu gefährden

Niemand ist so gut mit der lächerlichen Nichtigkeit der menschlichen Existenz vertraut wie der Entrümpler. Er weiß um die Vergänglichkeit der schicken Krawatten und Abendkleider, die einst mit stolz geschwellter Brust getragen wurden. Etliche liebevoll gepflegte Sammlungen von Bierkrügen, Jojos oder Porzellanservicen hat er gesehen. Er kennt den Koffer mit dem unveröffentlichten Frühwerk, die Hausbibliothek, die sorgsam verhüllten Punk-Singles, Omas silberne Zuckerdose, die Masse von Plüschtieren, darunter das einäugige, graue Eselchen, dessen Härchen ganz zerzaust sind von den salzigen Tränen, die es über all die Jahre aufsaugen musste. Und natürlich die Pappkartons voller Briefe, Fotografien und anderer Intimitäten.

All diese Dinge, die ihrem Besitzer oder ihrer Besitzerin lieb und teuer waren und die mehr oder weniger unbeschadet Umzüge und Renovierungen, Eheschließungen und -scheidungen überstanden haben, sind für den Entrümpler, der dann kommt, wenn man selbst für immer gegangen ist, nur eins: wertloser Ramsch, den es zu entsorgen gilt, am besten noch vorm Mittagstisch.

Gewiss gibt es Umstände, unter denen man sich noch zu Lebzeiten von all den Kleinigkeiten verabschieden muss. Wer sich mit Dutzenden Schicksalsgenossen in ein Schlauchboot quetscht, kann auf derlei Sentimentalitäten ebenso wenig Rück­sicht neh­men wie ein Untergrundkämpfer. Doch wissen diese Leute erst recht das Spärliche zu würdigen, das sie durch alle Unbotmäßigkeiten gerettet haben.

Gewiss gibt es auch umsichtige Zeit­genossen, die sich, meist im mittleren Alter, von allem Ballast trennen. Selbst wer nicht kühn oder herzlos genug ist, um Tabula rasa zu machen, ist gut beraten, sich bei jedem Großputz, bei jedem Umzug von einem Stück seiner Vergangenheit zu befreien. Aber, auf den Unterschied lege ich Wert, in diesem Fall bin ich es, der aus freien Stücken beschließt, sich von bestimmten Sachen zu verabschieden. Ohne Not riskiere ich es nicht, dass meine Habe in die Hände alkoholisierter Wüteriche gelangt.

Auch wenn ich keine Sorgepflicht gegenüber Kinder oder Katzen erfüllen muss, bin ich dem Alter entwachsen, in dem ich Gefallen daran fand, mit fast täglich wechselnden Mitbewohnern ein Matratzenlager zu teilen und in denen ich einen Umzug spielend mit einem Einkaufswagen erledigen konnte, während mein restlicher Kram im elterlichen Keller lagerte. Ich kann nichts eben mal bei meinen Eltern verstauen und auch nichts bei meiner Freundin, weil wir zusammenleben. Ich habe nur diese eine Wohnung. Meine Wohnung.

Es ist nicht so, dass ich dort nicht gerne und oft Gäste empfangen würde. Ohne eine Gegenleistung zu erwarten, bereitet es mir Freude, ihnen Speisen und Getränke zu kredenzen. Sogar ein Gästezimmer kann ich anbieten. Aber nicht unzurechnungs­fähigen Fußballdeppen aus aller Herren Länder.

Wenn sie schon mit ihren bunt bemalten Gesichtern die Stadt bevölkern, soll wenigstens mein Zuhause ein Refugium sein, in dem ich mich ungestört der Schopenhauer-Lektüre widmen kann. Keinesfalls möchte ich mich dazu genötigt sehen, polnischen Fans auseinanderzusetzen, warum ich eine mit handschriftlichen Notizen bekritzelte Marx-Engels-Werkausgabe besitze. Heitere, aber debile Brasilianer, die mir erzählen, dass Jesus mich liebt, können mir gestohlen bleiben, und sonstwo mögen Engländer wehrloses Gemüse verkochen. Ich verzichte darauf, morgens von nimmermüde grinsenden Japanern unter der Dusche fotografiert zu werden, und brauche mir nicht von pickligen amerikanischen Doktoranden zum tausendsten Male erläutern zu lassen, warum sich soccer nicht in den USA durchsetzten konnte. Meine Abende weiß ich besser zu verbringen, als kroatische Schnaps­nasen über die Ergebnisse des Tages zu informieren, die sie verpasst haben, weil sie schon mittags volltrunken unterm Tisch lagen. Und ich will nicht wieder und wieder saudischen Gästen nachvollziehbar machen, warum zwar meine Wohnung, nicht aber meine Freundin zu mieten ist. Sage keiner, das seien Klischees. Wir reden von Fuß­ballfans, nicht von normalen Menschen.

Vielleicht wird sich unter dem Plunder, den ich meinem Entrümpler überlassen werde, eine Fotografie finden, die er aus einer gedankenverlorenen Laune heraus näher betrachten wird. Nachdem er den Staub weggewischt hat, wird er fröhliche Menschen sehen, die, was er der Notiz auf der Rückseite wird entnehmen können, das Vorrundenspiel zwischen dem späteren Halbfinalisten Elfenbeinküste und den Niederlanden verfolgen. Am Rande dieser ausgelassenen Runde wird er eine Frau mit leichenblassem, furchterfülltem Antlitz bemerken. Wohl eine Holländerin, wird er denken und die Fotografie achtlos auf den Haufen zurückwerfen. Er wird nicht wissen, dass diese Frau in der Hoffnung auf einen kargen Nebenverdienst ihre Wohnung an ein Dutzend holländischer Fans vermietet hatte.