Die Migration des Bären

Wo kommt er her, wo ist er hin? Der bayerische Braunbär ist auf der Suche nach dem passenden Habitat. von cord riechelmann

Stoiber will den Bären lebend!«, mel­dete in der vorigen Woche Bild. Mein erster Gedanke dazu war: Macht der jetzt auch schon Gefangene? Die Auflösung stand dann aber oben auf derselben Seite. »Jäger weigern sich, auf Bären zu schießen«, hieß es da. Das können die Jäger in Bayern, weil der Bär vom dortigen Jagdrecht gar nicht mehr erfasst wird. Das war nicht immer so. Der jetzt im Dreiländereck zwischen Italien, Österreich und Bayern eher unsichtbar seine Kreise ziehende Bär verkörpert sozusagen den Wiedereintritt eines einstmals über ganz Europa verbreiteten Tieres. Braunbären, wissenschaftlich: Ursinus arctos, haben dabei die abendländische Phantasie wie kaum ein anderes Großtier angeregt. Sie schmücken die Stadtwappen von Berlin und Bern, geistern durch Fabeln, Sagen, Comics und Märchen und inspirierten schon die Steinzeitmen­schen zu ausgeprägten Bärenkulten.

Wobei die Beziehung zwischen Menschen und Braunbären immer ambivalent blieb. Bären sind Allesfresser und zumindest teilweise Nahrungskonkurrenten des Menschen. Sie suchen in Wäldern genau so gern nach Pilzen und Beeren, wie es Menschen tun. Und auch wenn die meisten Bären bei einem Zusammentreffen mit Menschen schlicht weglaufen, kann ein Kampf böse enden. Menschen sind Bären ohne Hilfsmittel wie Gewehre unterlegen. Und während Bären vom Mittelalter bis in die Neuzeit von Königen und niederem Adel herrschaftlich gejagt wurden, so waren sie Hirten, Bergbauern und Holzfällern bei ihrer beschwerlichen Arbeit einerseits eine Gefahr und andererseits ein willkommenes Jagdwild.

Dass heute in Europa nur noch Skandina­vien, Russland, die Karpaten, der Balkan und der italienische Abbruzzen-Nationalpark nennenswerte Bärenpopulationen aufweisen, hat auch etwas mit der Ausbreitung der menschlichen Siedlungen bis in die letzten Winkel europäischer Landschaften zu tun. Und dass die Bärenbestände jetzt wieder größer werden, hängt zumindest auch in Skandinavien mit der Landflucht der Menschen zusammen. Wilde Bären sind Einzelgänger, und vor allem die männlichen vertragen sich untereinander nicht. Wenn also dem Alpenbär jetzt in manchen Berichten ein »Migrationshintergrund« unterstellt wird, hat das einen biologischen Grund.

Da Bären Unterlegenheit nicht unmissverständlich gestisch artikulieren können, enden die Kämpfe unter ihnen auch tödlich. Dann frisst der Gewinner den Verlierer auf. Der Kan­nibalismus der Bärenmänner beschränkt sich aber nicht nur auf erwachsene, sie würden auch junge Bären jederzeit verzehren. In keiner anderen Säugetiergruppe sind Infantizide (die Tötung von Nachkommen) so oft beobachtet worden wie unter Bären. Auch deshalb sind Kontakte zwischen Bärinnen und Bären sehr spärlich und beschränken sich meist auf die ohne große Werberituale sachlich vollzogene Paarung im Frühjahr.

Bärinnen können den Zeitpunkt der Geburt durch die Verzögerung der Einnistung des Eies in der Gebärmutterwand – die Keimruhe – selbst genau bestimmen. Das ist wichtig, weil sie nur so sicher sein können, ihre Jungen in ihren tiefen, mit Lüftungsschächten versehenen Winterschlafhöhlen zur Welt zu bringen. Und wenn die Bärinnen dann im Frühjahr mit ihren ein bis zwei Jungen die Höhlen verlassen und zusammen auf Futtersuche gehen, sind die Mütter besonders wachsam. Denn Bärenmütter verhalten sich generell fürsorglich gegenüber Jungtieren. Es kann vorkommen, dass sie ihre Kinder austauschen, fremde Junge adoptieren, oder die Jungen suchen sich selber andere Mütter. Junge Bären bleiben über einen langen Zeitraum abhängig von ihren Müttern. Vor ­allem müssen sie die richtigen Jagdtechniken er­lernen. Es kann Jahre dauern, bis ein Bär durch Be­obachtung seiner Mutter die lebenswichtige Technik des Lachsfangs oder das Finden und Ausnehmen von Wild­bienenhonignestern gelernt hat. Es sind auch die engen Bindungen zwischen Müttern und den Jungtieren, die das Zusammenleben von Bären und Menschen auf engem Raum schwierig machen.

Dass der Braunbär also eine Art Flüchtling ist, der aus bereits von alten, erfahrenen Bären besetzten Gebieten aufgebrochen ist, um sich nach einem noch nicht von Bären bewohnten Habitat umzusehen, ist wahrschein­lich. Die Frage ist nur, wie es dazu kommen konnte, dass ein großes Land­raubtier wie der Braunbär selbstständig in ein Gebiet zurückkehrt, in dem seine Spezies ausgestorben war. Das widerspricht allen Vorhersagen der Artenschutzbiologie.

Nach einem Kriterienkatalog, den der Biologe David Ehrenfeld 1986 veröffentlichte, sind es zuerst »große Beutegreifer mit starker Habitatbindung, langer Trächtigkeit und wenigen Nach­kommen pro Wurf«, die zum Aussterben verurteilt sind. Sie haben ein beschränktes Areal, bewegen sich aber über Staatsgrenzen hinweg. Alle hier genannten Kriterien treffen auf den Braunbären zu. Und wenn solche großen Raubtiere noch dazu gejagt werden, wie Bären etwa in Rumänien, ist ihr Schicksal eigentlich besiegelt. Dass es bei den europäischen Braunbären anders kam, hat neben der bereits erwähnten Land­flucht Gründe, die wenig mit Naturschutz zu tun haben und auch die Geschichte Ba­yerns berühren.

Wenn Franz Josef Strauß nämlich genug von seiner Familie oder den Kommunisten in Presse, Funk und Fernsehen hatte, flog er zur Jagd nach Rumänien. Dort traf er einen Geistesverwandten. Nicolae Ceausescu war von Anfang an »mehr Nationalist als Marxist« und umgeben von einer »kompletten Schurkenriege von Faschisten, christlichen Eiferern und Antisemiten«, wie der amerikanische Wissenschaftsjournalist David Quammen in einer Analyse zur Lage der Bären und zu den politischen und ökologischen Hintergründen in Rumänien bemerkt. Ceausescu hatte mit seiner Politik erreicht, dass 1988 in den rumänische Karpaten zwan­zigmal mehr Braunbären lebten als auf der vergleichbaren Fläche im amerikanischen Yellowstone-Nationalpark, einem der am besten geschützten Rückzugsgebiete des nord­amerikanischen Grizzlybären, einer Unterart des Braunbären.

Die Methoden, mit denen er das erreichte, waren feudalistisch. Die Bären­jagd wurde zu einem Privileg der Partei­nomenklatura und ihrer Staatsgäste. Wilderei gab es praktisch nicht, weil nach dem Zweiten Weltkrieg die ein­fache Bevölkerung keine Waffen mehr besaß und der Restriktionsapparat der Gesetze bestens funktionierte. Die hohe Bärenzahl war aber nicht nur eine Folge der Erholung der Bestände. Die Tiere wurden regelrecht durch das Auslegen von Futter im Herbst und Frühjahr gemästet, um sie für die Herrenjäger leichter greifbar zu machen.

Heute ist die Bärenjagd im wirtschaft­lich schwachen Rumänien ein big business. Ein Bärenabschuss kostet rund 10 000 Euro. Dabei sind die Gefahren für Menschen in den Karpaten genauso wie in Schweden oder Finnland auch deshalb geringer geworden, weil immer mehr Menschen die ländlichen Gegenden verlassen.

Vor diesem Hintergrund ist es tatsächlich ein Fortschritt, dass Bayerns Jäger und Förster den Schuss auf den Bären verweigerten. Auch in Bayern, Österreich und Italien verlassen immer mehr Menschen die Bergdörfer und geben den Almbetrieb auf. Damit schaffen sie natürlich auch Platz für die Streifgebiete der Bären. Wenn diese dann allerdings auf die Idee kommen, der allgemeinen Landflucht von Tieren und Menschen in Bayern zu folgen und nach München zu gehen, wird es wieder problematisch.