Vom Chef gerettet

Obwohl Verdi in der Auseinandersetzung im öffentlichen Dienst in Baden-Württemberg fast besiegt war, stimmten die kommunalen Arbeitgeber einem Kompromiss zu. von felix klopotek

Kennen Sie Christian Fette? Er wurde 1895 geboren, war gelernter Buchdrucker, seit 1913 Mitglied der SPD, unter den Nazis verfolgt und 1951 Nachfolger des verstorbenen Hans Böckler als Vorsitzender des DGB. Den Posten behielt er wegen seiner Befürwortung von Adenauers Restaurationspolitik nicht lange. 1952 äußerte er sich so über die Bedeutung von Gewerkschaften: »Nicht diejenige Gewerkschaft, (…) die am meisten streikt, hat die besten Lohn- und Arbeitsbedingungen, sondern diejenige Gewerkschaft, die Rückhalt an Organisierten und Pulver hat, weil man mit dieser keinen Streik aufnimmt.«

Offensichtlich sprach er eine Banalität aus: Je tiefer eine Gewerkschaft in ihrer Branche verankert ist, desto schwieriger ist es für das Kapital, Beschlüsse gegen sie durchzusetzen. Dahinter verbirgt sich aber auch ein Angebot an das Kapital: Wir haben »unsere« Arbeiter so im Griff, dass sie nur nach unserer Pfeife tanzen. Die stärkste Gewerkschaft ist zugleich die, die ihre Klientel am besten unter Kontrolle hat. Überhaupt ist Kontrolle, und nicht Kampfbereitschaft oder gar umstürzlerische Gesinnung, das Pfund, mit dem die Gewerkschaft gegenüber dem Kapital wuchert. Die Botschaft heißt: »Ihr rückt mehr Lohn raus, ihr garantiert Arbeitsplätze, die 35-Stunden-Woche etc., und wir garantieren, dass die Kollegen nicht über die Stränge schlagen.« Wilde Streiks, eigenmächtig erhobene Forderungen und fehlende »Dialogbereitschaft« der Streikenden sind schädlich für jede Gewerkschaft.

Was bedeutet das angesichts des vor allem in Baden-Württemberg hart geführten, neunwöchigen und erst am 11. April beendeten Streiks im öffentlichen Dienst? So absurd es zunächst klingt, aber man kann sagen: Am Ende sprang die Gegenseite, in diesem Fall die kommunalen Arbeitgeber, der Gewerkschaft bei.

Die arbeitsrechtliche Lage im öffentlichen Dienst ist diffus. Das beginnt damit, dass in der jüngsten Auseinandersetzung zwei Arbeitgeberparteien beteiligt waren: zum einen die Kommunen, zum anderen die Länder. Die Länder haben bereits im Juni 2003 den Tarifvertrag über das Urlaubs- und Weihnachtsgeld gekündigt, im März 2004 die Vereinbarungen über die Arbeitszeit. Verdi gab sich, ohne nennenswerte öffentliche Gegenwehr, geschlagen. Im Oktober, kurz nach Verabschiedung des neuen Tarifvertrags, scherten die niedersächsischen und baden-württembergischen Kommunen aus. Sie folgten dem Vorbild der Länder und kündigten eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden an.

Für Verdi war das ein Signal, verlorenes Terrain zurückzugewinnen. Der Streik richtete sich gegen die Vertragsverletzung der Kommunen und sollte darüber hinaus Druck auf die Länder ausüben, endlich dem Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst beizutreten.

Der Ertrag des Streiks ist weit davon entfernt, ein Erfolg zu sein, auch unter den gegebenen, von den Gewerkschaften akzeptierten arbeitsrechtlichen Bedingungen. Es wird auf kommunaler Ebene vorläufig keine 40-Stunden-Woche geben, aber auch die bislang gül­tige 38,5-Stunden-Woche hat keinen Bestand mehr. Gearbeitet wird von nun an 39 Stunden, was für diejenigen, die zu den Bedingungen der 40-Stunden-Woche eingestellt wurden, eine Verbesserung bedeutet, für die große Mehrzahl der länger Beschäftigten aber eine Verschlechterung. Die Länder übrigens treten nach wie vor nicht dem Tarifvertrag bei, in Bayern gilt sogar die 42-Stunden-Woche.

Eine halbe Stunde mehr Arbeit, das ist auf dem Papier keine Größe. Aber es geht um mehr: um das, was die Gewerkschaften früher, als ihr Ziel noch die 35-Stunden-Woche war, »Zeitsouveränität« nannten. Die Realität, auch für einen Müllfahrer, eine Krankenschwester oder eine Erzieherin, sieht so aus, dass immer mehr Arbeit in einer Stunde geleistet werden muss. Eine kürzere Wochenarbeitszeit bedeutet unterm Strich nicht weniger Erschöpfung – im Gegenteil. Ein Kollege erzählt der Zeit: »Mit weniger Leuten müssen wir heute pro Schicht zwei- bis dreimal so viel Müll abfahren, genauso wie die Privaten.« Wenn jetzt noch der Arbeitstag verlängert wird, zusätzlich zu allen Mehrbelastungen und zum sinkenden Reallohn, muss man das als Auftakt für eine viel umfassendere Offensive des Kapitals verstehen.

Den Verhandlungsführern der Kommunen und der Länder wäre es möglich gewesen, Verdi auf ganzer Linie zu isolieren. Denn es gibt nicht nur zwei unterschiedliche öffentliche Arbeitgeber, die Kommunen und die Länder drohen bereits mit der noch weiter gehenden Privatisierung der öffentlichen Dienste. Hinzu kommt das schlechte Image von Verdi: Der spektakulär inszenierte Streik von Müllwerkern und Erziehern sorgte bei der unmittelbar betroffenen Bevölkerung für Unmut. Und nicht zuletzt liebäugeln einzelne Länder und Kommunen mit »Separatlösungen«. Diese wären das offizielle Ende des Flächentarifvertrags, der ohnehin nur noch auf dem Papier besteht.

Aber warum beharrten die Arbeitgeber nicht auf ihrer Forderung in einem Moment, als Verdi Schwäche zeigte und den Streik Schritt für Schritt einzustellen begann? Die vollständige Demontage der Gewerkschaft bedeutet auch die Aufgabe eines Kontrollinstruments. Was würde eigentlich passieren, wenn Müllwerker nicht mehr von ihrer Gewerkschaft zur »Nadelstichtaktik« angehalten würden, sondern den Streik nach ihren eigenen Kriterien führten? Zwar gibt es für das Kapital positive historische Erfahrungen mit demontierten Gewerkschaften; am spektakulärsten schlug Margaret Thatcher sie in Großbritannien während des Bergarbeiterstreiks von 1984 nieder. Aber die Epoche war eine andere, die neoliberale Ideologie vom ungebremsten Aufstieg jedes Einzelnen, wenn nur die alten Institutionen abgeschafft würden, stand hoch im Kurs.

Heute sind die Zeiten unruhiger, diffuser, auch für das Kapital. Da ist es gut, wenn jemand auf der Gegenseite das Fußvolk ordnet. Es soll gar nicht bezweifelt werden, dass in den niedrigeren Funktionärsriegen sich viele Gewerkschafter mit Wut und großer Kampfbereitschaft aufgeopfert haben. Solche Leute braucht man in den Gewerkschaften, aber nur, solange sie keine Gefahr für die Gesamtinstitution darstellen.

Am besten dürfte es aus der Sicht der Unternehmer in Zukunft sein, die Gewerkschaften auch dann noch einzubinden, wenn das Konstrukt eines einheitlichen Arbeitsmarktes zerfällt. Es dürfte weiterhin industrielle Komplexe geben, die kaum aufzuspalten sind, die also über eine große Stammbelegschaft verfügen. Um diese bei Laune zu halten, bedarf es der Gewerkschaft.

Um diese industriellen Kerne herum wird es immer mehr gewerkschaftsfreie Sektoren geben, für deren Charakterisierung zurzeit das Wörtchen »prekär« verwendet wird. Hier sind die Kämpfe noch isoliert und partikular. Das ist kein Wunder bei einer Arbeiterklasse, die in den vergangenen Jahrzehnten nicht zuletzt von ihren Gewerkschaften systematisch politisch entmündigt wurde.

Der Streik im öffentlichen Dienst, die große Schlacht Frank Bsirskes, brachte im Gewerkschaftsjargon am Ende weder Sieg noch Niederlage, sondern einen »Erfolg«. Der Arbeitskampf entpuppt sich als großer Versuch: Die einen testeten, inwieweit sie überhaupt noch handlungsfähig sind, die anderen überprüften, ab wann die Demontage des Gegners zu weit geht.