Atom macht Boom

Der Gau in Tschernobyl war für die Entwicklung der Atomindustrie nur eine kleine Betriebsstörung. Jetzt geht’s erst richtig los! von peter bierl

Die Katastrophe von Tschernobyl kann getrost als historisches Ereignis bezeichnet werden. Nicht nur, dass sie – mehr als zuvor der Unfall in Harrisburg 1979 – endgültig die Propaganda von der sicheren Atomenergie widerlegte, auch bescherte sie den Atomkraftgegnern einen später nie wieder erreichten Zulauf – und tatsächliche Erfolge. Eine Volksabstimmung stoppte den Reaktorbau Italien. An Pfingsten 1986 tobten am Bauzaun der geplanten Wiederaufarbeitungsanlage bei Wackersdorf in der Oberpfalz erbitterte Kämpfe zwischen Atomkraftgegnern und der Polizei, bei denen über 400 Menschen verletzt wurden. Die Betreiberfirma verkündete drei Jahre später angesichts immenser Kosten, zahlreicher Prozesse und der Auseinandersetzungen im Taxöldner Forst einen Baustopp.

Nach Tschernobyl gewann die Anti-AKW-Bewegung an Breite – aber auch an Beliebigkeit. Neue Gruppen wie etwa die »Mütter gegen Atomkraft« stellten neue, andere Fragen, als die linksradikalen Atomgegner es bis dahin getan hatten: Wie belastet sind der Sandkasten und die Pilze, wo gibt es becquerelfreies Gemüse und nicht verstrahlte Milch zu kaufen?

Während sich die Atomkraftgegner im Aufschwung befanden, erlebte die Atomindustrie nach Tschernobyl eine Flaute. Im Jahr 1989 wurden weltweit nur drei neue Atomkraftwerke in Betrieb genommen. Siemens und der Tochterfirma KWU schienen die Aufträge auszugehen, obwohl ihnen kein Geschäft zu heikel war. In den siebziger Jahren hatte der Konzern unter anderem Anlagen nach Argentinien und Brasilien exportiert, wo die Militärdiktatoren Bomben bauen wollten. Die Rassisten in Südafrika bekamen eine Urananreicherungsanlage aus Deutschland.

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks modernisierte oder vollendete Siemens Atomkraftwerke in Tschechien und der Slowakei. Gemeinsam mit der französischen Framatome entwickelte Siemens einen neuen Reaktortyp, den Europäischen Druckwasserreaktor. 1993 verabredeten die Ministerpräsidenten Gerhard Schröder (SPD) und Edmund Stoiber (CSU), in Gorleben ein Langzeit-Zwischenlager für Atommüll und in Bayern ein Vorzeigemodell des neuen Reaktors zu bauen. Nur die Energiekonzerne hatten wenig Interesse. Neubauten sind teuer, profitabel wird das Geschäft erst nach Jahren. Das ist einer der Gründe dafür, dass die Energiekonzerne die aktuelle Agitation von CDU/CSU für längere Laufzeiten unterstützen, aber noch keine neuen Anlagen fordern.

Das einzige neu errichtete Atomkraftwerk in Deutsch­land nach Tschernobyl war ein Forschungsreak­tor bei München, den die Technische Universität von Siemens bauen ließ und der seit 2004 mit waffentauglichem Uran läuft. SPD und Grüne protestierten gegen den militärischen Aspekt, während die rot-grüne Bundesregierung pünktlich die Zuschüsse zu den Baukosten überwies. Statt Atomanlagen stillzulegen, genehmigte Rot-Grün den Konzernen im Sommer 2000 Laufzeiten von 20 bis 30 Jahren. Im Juli 2000 eröffnete Bundeskanzler Schröder den Forschungsreaktor Wendelstein 7-X in Greifswald, mit dem die Kernfusion erforscht werden soll.

Die Atomwirtschaft brauchte sich zu keiner Zeit ernsthafte Sorgen zu machen. Zwar muss die Polizei weiterhin den Castor-Transporten nach Gorleben regelrecht den Weg frei prügeln, doch das hinderte Klaus Rauscher, den Vorstandsvorsitzenden von Vattenfall-Europe, nicht, zufrieden festzustellen: »Unsere Kernkraftwerke laufen frei von politisch bedingten Störungen«, womit er sich allerdings eher auf die Regierungspolitik bezog. Für diese Zufriedenheit hat er in der Tat allen Grund: Nach­dem größere »politisch bedingte Störungen« auch unter Rot-Grün ausgeblieben waren, begann die CDU/CSU im Frühjahr 2005 mit ihrer Kampagne gegen den rot-grünen Atomkonsens.

Die Union verlangt längere Laufzeiten für bestehende Kraftwerke, der hessische Ministerpräsident Roland Koch erklärte, man solle sich die Option auf Neubauten »für das nächste Jahrzehnt offen halten«.

Getragen wird diese neue Offensive von der Debatte um den Klimawandel und die steigenden Energiepreise. Politiker und Industrie präsentieren Atom­energie als saubere Alternative zu Öl und Gas. Der Club of Rome, der ehemalige Hamburger Umweltsenator Fritz Vahrenholt (SPD), der Wissenschaftler James Lovelock – Verfechter der Gaia-Hypothese, wonach die Erde ein beseelter Organismus sei – und Patrick Moore, Mitgründer von Green­peace, verbreiten heute alle das Märchen, dass Atomanlagen die einzige Chance seien, den Klimawandel zu stoppen. Atomar betriebene Meerwasserentsalzungsanlagen könnten Wasserversorgung und Landwirtschaft in aller Welt sichern, behauptete Moore vor einem Unterausschuss des US-Kongresses.

Kernspaltung trägt jedoch weltweit nur etwa 2,7 Prozent zur Energieversorgung bei. Soll ein nennenswerter Anteil erreicht werden, müssen tausende von Anlagen gebaut werden, was unmöglich zu finanzieren ist. Außerdem ist Atomenergie ineffi­zient: Nur 30 Prozent der erzeugten Energie werden genutzt, der Rest ist Abwärme. Atomenergie ist auch nicht sauber: Bei der Produktion der Brennstäbe entsteht sehr wohl CO2. Vor allem aber ist und bleibt Atomkraft eine lebens­gefährliche Destruktivkraft. Durch Uranabbau, Transporte, Normalbetrieb und Atommüll wird Radioaktivität freigesetzt, auch ohne Störfälle, von denen sich Hunderte ereigneten. Verschiedenen Untersuchungen zufolge liegt in der Umgebung von Reaktoren die Leukämierate signifikant höher.

Schon deshalb kann es kein Recht auf eine vermeintlich zivile Atomkraft geben, die manche Friedensfreunde dem klerikalfaschistischen Regime im Iran zubilligen wollen. Bei der Atomkraft handelt es sich um eine »zivilitärische« Technologie: Wer den Brennstoffkreislauf beherrscht, kann auch Bomben bauen.

Weltweit sind über 440 Atomkraftwerke in Betrieb. Fast die Hälfte sind nach Angaben der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) älter als 25 Jahre. Dazu kommen rund 280 Forschungsreaktoren. Nach Angaben der World Nuclear Association, der internationalen Lobby, sind derzeit 24 Anlagen im Bau, die Hälfte davon in Asien. Weitere 41 Anlagen werden derzeit geplant, und Regierungen haben den Neubau von über 110 Atomkraftwerken angekündigt: jeweils 24 in Indien und Südafrika, 19 in China und 13 in den USA.

In Südafrika setzen Regierung und Industrie auf einen weiterentwickelten Hochtemperatur-Reaktor, dessen einzige deutsche Version in Hamm-Uentrop nach einer Serie von Pannen stillgelegt wurde. In Finnland könnte 2007 der Bau des neuen Druckwasserreaktors von Siemens und Fram­atome beginnen. Die USA und Indien haben einen Vertrag geschlossen, wonach die US-Industrie Technik und Knowhow zum Bau von AKW liefern wird, Australien hat mit China umfangreiche Uranlieferungen vereinbart.

Es tut sich also was in der Branche. Die Expan­sion führt bereits zu Eng­pässen auf dem Markt für radioaktive Brennstoffe, was den Lieferanten höhere Preise und Aktiengewinne beschert. Der Kurs der kanadischen Firma Cameco, des wichtigsten Anbieters weltweit, ist seit 2002 um das Achtfache gestiegen, der Gewinn soll bis 2007 um 160 Prozent steigen, berichtete »Börse Online«. In Caradache in Südfrankreich soll zudem ein neuer Versuchsreaktor für die Kernfu­sion gebaut werden. Die EU übernimmt die Hälfte der Kosten von 4,6 Milliarden Euro, die USA, Russland, Japan, Südkorea und China tragen je zehn Prozent.

Kein Wunder also, dass derzeit von einer Renaissance der Atomkraft die Rede ist, doch stimmt das nicht genau. Die Atomkraft war niemals tot. Sie erlebt 20 Jahre nach Tschernobyl und der folgenden kleinen Flaute jetzt einen wahren Boom.