Runter mit der Ethnobrille!

Lateinamerika ist eine ethnozentristische Konstruktion Europas. Auch die Linke kulturalisiert die Politik im Süden Amerikas. von stefanie kron

Als die ersten Pilger 1620 in Plymouth, Massachusetts, ankamen, begrüßte sie ein Indianer namens Squanto. In sauberem Englisch führte er die Ankömmlinge in ihre neue Heimat ein – und half ihnen durch einen harten Winter. »Man muss sich die ›Neue Welt‹ von 1620 vor Augen führen: Man konnte den Geruch von Pinien bereits 50 Meilen draußen auf dem Meer riechen. Nun stellen Sie sich vor, zu einem solchen neuartigen Ort zu kommen und dann die unheimliche Erfahrung zu machen, einem Patuxet-Indianer zu begegnen, der gerade erst aus Europa zurückgekommen ist.« Die Anekdote, erzählt von dem Anthropologen James Clifford, spricht Bände über die verschwiegene Beziehungsgeschichte zwischen Europa und der »Neuen Welt«. Sie ist eine Geschichte des Reisens, der Migration und des Übersetzens im doppelten Sinne des Wortes. Und sie ist eine Geschichte des ethnozentristischen Blicks Europas.

Amerika. Wohl kaum ein anderer Ort der Welt setzt in Europa seit Jahrhunderten mehr Projektionen in Gang: Träume von Eroberung und Zivilisierung, von Emigration und Abenteuer, von einer individuellen Erfolgsstory oder von Revolution prägen europäische Imaginationen, seit Cristóbal Colón vor mehr als 500 Jahren seinen Fuß auf eine karibische Insel setzte und Amerika diesseits des Atlantiks als die »Neue Welt« ins kollektive Bewusstsein einging.

Die Vorstellung der »Neuen Welt« ist mit einer ethnohistorischen Darstellung verbunden, die davon ausgeht, dass Amerika von Europa erschaffen wurde. Sie ist bis heute virulent und durchzieht nach wie vor alle politischen Positionen.

Selbst diejenigen, die betonen, dass die Geschichte des Nation Building und der Demokratie in den USA höchst gewaltsam verlief – und unzählige Natives, schwarze Sklaven und chinesische Eisenbahnarbeiter das Leben kostete –, sowie diejenigen, die derzeit scharfe Kritik an der aggressiven Außen- und repressiven Innenpolitik der US-amerikanischen Regierung üben, stellen die prinzipielle demokratische und freiheitliche Grundverfasstheit der USA – oder genauer des weißen, angloamerikanischen Nordamerika – nicht in Frage.

Das ethnisch begründete politische Grundvertrauen endet am Río Grande, der die USA und Mexiko trennt. Weiter südwärts scheint sowohl in den Augen vieler europäischer Linker, als auch in denen liberaler und konservativer Kommentatoren irgend etwas schief zu laufen mit der Demokratie: Wechselweise werden die Regierenden jeglicher politischer Couleur hier als Despoten, durchgeknallte Revolutionsmystiker, Caudillos, Demagogen oder Populisten bezeichnet. Zwar soll die Verantwortung von Militärherrschern für die großen Tragödien der Geschichte Amerikas nicht verschwiegen werden, die Länder wie Guatemala zu Massengräbern machten.

Doch erstens sind die genannten Begriffe zur Bezeichnung von Politikstilen und Poli­tikertypen mit kulturellen Zuschreibungen verbunden und bleiben geographisch auf das beschränkt, was wir gemeinhin Lateinamerika nennen. Zweitens, und das zeigt sich in den aktuellen Debatten um den so genannten Linksruck in Lateinamerika besonders deutlich, wird kaum danach gefragt, welche sozialen und politischen Bewegungen die als Despoten und Caudillos klassifizierten Politiker ins Amt brachten. Der konkrete Legitimationszusammenhang bleibt ungenannt.

Als exemplarisch für die Entpolitisierung und Kulturalisierung der Transformationsprozesse im Süden Amerikas von Seiten der Presse können die medialen Darstellungen des venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez und des neuen bolivianischen Staatschefs Evo Morales gelten. Chávez gilt seit Jahren als der Inbegriff autoritär-populistischer »Kultur« in Lateinamerika, obgleich er ein Land regiert, das eine der fortschrittlichsten Verfassungen und eines der liberalsten Pressegesetze aufweist. Evo Morales wird von der europäischen Presse hingegen auf einen »Indio« und »Eingeborenen« reduziert. Er sei ein »Ureinwohner vom Volk der Ayamara«, heißt es beispielsweise in der Berliner Zeitung vom 28. Januar.

Überfordert scheinen an diesem Punkt auch linke Medien zu sein. Als »indianischer Führer« bezeichnet Hugo Velarde Morales im Freitag vom 13. Januar. In der Jungle World (4/06) nennt Horst Pankow den neuen Präsidenten Boliviens gar einen »ethno-chauvinistischen Demagogen«.

Würde die Ethnobrille abgesetzt, könnte man sehen, dass Morales das genaue Gegenteil eines Ethno-Chauvinisten ist. So hat er sich beispielsweise gegen den Aymara-Nationalisten Felipe Quispe durchgesetzt. Morales ist vielmehr Teil des antirassistischen Projekts der bolivianischen Linken. Sie nimmt zugegebenermaßen positiv Bezug auf die indigene Mehrheitsbevölkerung und fördert damit die Artikulation einer – sozial bestimmten – indigenen Identität, die in den vergangenen Jahren zum Vehikel für höchst plurale soziale und politische Bewegungen wurde.

Zur politischen Programmatik dieser Bewegungen, die nun Evo Morales in freien Wahlen zu ihrem Repräsentanten gewählt haben, gehört gerade die Überwindung des Machtprinzips der ethnisch determinierten Politik. Immerhin ist Bolivien derjenige Staat in Amerika, welcher in der Tradition eines dezidiert rassistischen postkolonialen Nationalstaatskonzeptes steht, das in seiner Radikalität der programmatischen Exklusion indianischer Gruppen nur noch von Guatemala übertroffen wird.

Dass der abschätzig auch »Pullovermann« genannte Morales in der deutschen Presse vorwiegend als »Indio« und nicht als strategisch handelnder »seriöser« Politiker wahrgenommen wird, hat wohl mehr mit dem rassistischen Blick der Europäer als mit der ethnischen Identität von Morales zu tun. Auf der Ebene der politischen Repräsentation und Legitimität ist ihm bereits jetzt etwas bislang Einzigartiges gelungen: Er ist im Team mit dem kreolischen Vizepräsidenten und Soziologen Alvaro García Linera zum kulturellen und politischen Vermittler zwischen der kreolischen und indigenen Welt eines auseinander fallenden Staats und einer polarisierten Gesellschaft geworden. Als Symbol dessen kann Morales’ zweifache Amtseinführung gelten: im bolivianischen Parlament und in Tiwanaku, einer historischen Stätte der Inka, wo er von den indigenen Gruppen vereidigt wurde.

Es ist genau diese Funktion des Vermittlers, die der europäischen Berichterstattung zu schaffen macht. Weil sie den rassistischen Blick auf die »Neue Welt« und die damit verbundene Konstruktion der Zweiteilung Amerikas in das weiße zivilisierte Nordamerika und das mestizische oder indigene chaotische Südamerika stört.

Die Debatte in der Linken darüber, ob Südamerika links wird oder weiter von so genannten Despoten, Demagogen und Populisten regiert wird, ist jetzt schon langweilig. Nicht nur, weil sie kulturalistisch, sondern auch, weil sie staatsfixiert geführt wird. Sie könnte belebt werden, indem die ethnozentristischen Projektionen auf den Süden Amerikas kritisch reflektiert würden und man begänne, auch Lateinamerika mit politischen Kategorien zu betrachten und die dortigen Gesellschaften nicht ausschließlich danach zu ­beurteilen, ob ihre Staatschefs europäische Benimmregeln und Normen politischer Repräsentation erfüllen. So könnte erstens sichtbar werden, dass »Lateinamerika« ­politisch höchst heterogen ist, dass die Geschichte des Subkontinents untrennbar mit der Konstitution Europas verbunden ist, aber auch, dass der Río Grande nicht die Grenze Lateinamerikas bildet, konkurriert Spanisch in den USA doch de facto inzwischen mit der Amtssprache Englisch.

Und dann erst beginnen die auch für ­Europa interessanten Diskussionen: Es stellt sich beispielsweise die Frage, welche Gruppen die amerikanischen Präsidenten eigentlich regieren? Oder anders gesagt: Welche Bedeutung haben die amerikanischen Nationalstaaten und Zentralregierungen in Zeiten, in denen ein großer Teil ihrer Bevölkerungen sich jenseits nationalstaatlicher Grenzen, Vergesellschaftungsmuster und Identitäten bewegen – und organisieren.

So befindet sich ein bedeutender Anteil der Staatsbürger aus Uruguay, Argentinien, Bolivien und insbesondere aus Zentralamerika in Europa, in den USA oder in Brasilien. Ihre monetären Rücküberweisungen an ihre Familien und Gemeinden erhalten ganze Natiomnalökonomien aufrecht, ihre sozialen und politischen Netzwerke folgen eigenen transnationalen Mustern. Für die Gewährleistung ihrer Bürgerrechte fühlt sich indessen niemand so recht verantwortlich.

Doch auch im Inneren sind die Räume der Wirkungskraft nationalstaatlicher Politiken in vielen Ländern Amerikas begrenzt. Es wird versucht, das Schwinden des staatlichen Gewaltmonopols und den Mangel an sozialer Integrationsfähigkeit durch neorassistische Politiken der Gettoisierung, der Gewalt und des Strafens zu kompensieren. Bernhard Schmid spricht in diesem Zusammenhang scharfsinnig von der »Territorialisierung der sozialen Frage«, für die New Orleans zur Metapher geworden ist. So liegt die Tragödie der linken Regierung von Luiz Inácio »Lula« da Silva in Brasilien nicht nur in ihren Korruptionsskandalen und der traurigen Einsicht, dass sie die Armut nicht effektiv bekämpft und eine neoliberale Wirtschaftspolitik weiterverfolgt. Die Regierung der brasilianischen Arbeiterpartei hat das Anwachsen extralegaler Macht- und Gewaltstrukturen in den Armenvierteln, den Favelas, der Mega-Städte São Paulo und Rio de Janeiro nicht verhindern können oder wollen. Ein weitgehend autonom agierender Polizeiapparat ist entweder in diese Strukturen eingebunden oder bekämpft sie auf eine Weise, die die durchschnittliche Lebenserwartung eines schwarzen Brasilianers auf 30 Jahre hat sinken lassen.

Die derzeit drängenden Themen in Amerika sind die Fragen der fragmentierten Staatlichkeit, der informellen Öffentlichkeiten und extralegalen Machtstrukturen, der Migration und der Menschenrechte – auch für die Linke.