Eure Armut kotzt uns an!

Der Hamburger Innensenator hat bettelnde Menschen zum Sicherheitsproblem erklärt. Mithilfe kommunaler Vorschriften werden sie aus den Innenstädten vertrieben. von ron steinke

Es war der Spiegel, der im vorigen Jahr die Diskussion eröffnete. »Der Konflikt wirft die Frage auf, ob eine vergleichsweise reiche Gesellschaft wie die westdeutsche derart offen demonstriertes Elend aushalten kann«, war im November in dem Magazin zu lesen. Und das war ernst gemeint.

In dem Artikel ging es um Geschehnisse in Hamburg, wo nach Schätzungen der Wohnungslosenhilfe etwa 1 200 Personen auf der Straße leben. Im Sommer 2005 war ein Menschenhändler-Ring aufgeflogen, der körperlich Behinderte aus Bulgarien nach Hamburg gebracht und zum Betteln gezwungen hatte. Die Polizei fasste einen der Täter und schob ihn nach seiner Verurteilung ab. Während die »Bettel-Sklaven« wieder aus dem Stadtbild verschwanden, blieb das Schicksal der übrigen Hintermänner und der Opfer ungeklärt, interessierte die Strafverfolger aber auch nicht weiter.

Ein längerfristiges Interesse an der Geschichte zeigte dagegen die Hamburger Handelskammer. Ihre Geschäftsführung sah eine günstige Gelegenheit, eine alte Forderung wieder zu beleben und ging damit an die Öffentlichkeit: Die »organisierte Bettelei von Menschen, die ihren Lebensmittelpunkt nicht hier haben«, bereite den Kaufleuten Sorgen hinsichtlich ihres Weihnachtsgeschäfts, wurde erklärt. Notwendig sei ein Bettelverbot.

Der Spiegel erkannte sogleich ein juristisches Problem, welches es zu lösen gelte. »Die Polizei ist jedoch machtlos: Bestraft werden kann derzeit nur aggressives Betteln. Und aggressiv sind die fremden Behinderten nicht«, erläuterte das Magazin. Dass selbst »ruhig« bettelnde Menschen eine Bedrohung der Bevölkerung darstellen, setzte der Spiegel als selbstverständlich voraus. Eine Gefahr bestehe für die Gefühle der Vorübergehenden, deren schlechtes Gewissen sei »die kalkulierte Reaktion«. Das war Grund genug für die Journalisten, sich beim Hamburger Innensenator Udo Nagel (parteilos) nach Polizeimaßnahmen gegen die »fremden Behinderten« zu erkundigen und bei­läufig daran zu erinnern: »Früher wurden solche Menschen als Monster zur Schau gestellt.«

Der Innensenator sprach sich daraufhin zum Jahresende in Springers Hamburger Abendblatt für ein Verbot jeglichen Bettelns in den vornehmen Gegenden der City aus. Dabei geht es ausschließlich um das »stille« Betteln. Das so genannte aggressive Betteln fällt längst in die Kategorie der Ordnungswidrigkeiten und ist verboten.

Diskussionen wie in Hamburg sind in den vergangenen Jahren in zahlreichen deutschen Städten geführt worden. Viele kleinere Gemeinden, die um ihre Touristen fürchten, aber auch Großstädte wie Frankfurt, Bremen, Nürnberg oder Erfurt haben seit den neunziger Jahren unter dem Schlagwort »Saubere Stadt« bettelnde Menschen mit Verboten aus dem öffentlichen Raum vertrieben.

Die Kriminalisierung offen gezeigter Armut knüpft in Deutschland an eine lange Tradition an, die erst in den siebziger Jahren unterbrochen wurde und eigentlich beendet schien. Der Paragraph, mit dem in Deutschland bis ins Jahr 1974 die »Bettelei« als Straftat verfolgt wurde, stammte aus dem Jahr 1933. Das Gesetz sah eine Höchststrafe von sechs Monaten und einen »Arbeitsdienst« als Strafe für jede Form des Bettelns vor. Die Nationalsozialisten hatten den Paragraphen 361 des Strafgesetzbuches als formaljuristische Grundlage für die Verschleppung und Ermordung von »Asozialen« genutzt. Das Verschwinden der Bedürftigen aus dem öffentlichen Raum sollte der Bevölkerung den beginnenden wirtschaftlichen Aufschwung vorgaukeln, zugleich dienten die Gefangenen dem NS-Staat als Zwangsarbeiter.

Der formelle Straftatbestand blieb nach 1945 unverändert. Er ermöglichte es den Behörden der Bundesrepublik in den Jahren des Wiederaufbaus, sichtbare Armut nach ihrem Ermessen als Kriminalitäts- anstatt als soziales Problem zu behandeln. Die Zahl der Verurteilungen wegen »Bettelei« ging noch in den fünfziger und sechziger Jahren jährlich in die Hunderte. Die Regierung Adenauer sprach in ihren Gesetzesmaterialien zur »Bettelei« weiter ungerührt von »asozialen Personen« und »Arbeitsscheuen«. Nicht anders verfuhren die Gerichte, etwa das Oberlandesgericht Hamburg, das sich 1968 in einem Leiturteil zu den »unverbesserlichen Asozialen« äußerte.

Erst gegen Ende der sechziger Jahre lehnte das Bundesverfassungsgericht die Verfolgung des bloßen Bettelns ab. Das höchste deutsche Gericht erhob grundsätzliche Einwände: Staatliche Verbote und Strafen seien in einem Rechtsstaat nur dann gerechtfertigt, wenn von einem Verhalten eine konkrete Bedrohung ausgehe, was beim unaggressiven, passiven Verhalten eines Bettlers aber nicht der Fall sei. Für verfassungswidrig erklärte das Gericht im Jahr 1967 konkret die von den Sozialbehörden praktizierte Einweisung von Bettlern in »Besserungsanstalten«, die die Bettler »zu regelmäßiger Arbeit und Sesshaftigkeit hinführen« sollten.

Der Bundestag strich im April 1974 die »Bettelei« aus dem Strafgesetzbuch. Doch für die Strategie der Vertreibung sozialer Randgruppen aus dem öffentlichen Raum war bald ein neuer Weg gefunden.

Die Stadt München erließ 1980 eine Straßensatzung, die das Betteln in der Innenstadt zur genehmigungspflichtigen »Sondernutzung« erklärte und seine Genehmigung im gleichen Atemzug ausschloss. Diese listige Methode, das Betteln anstatt über das Bundesrecht einfach auf kommunaler Ebene zu verbieten, nahmen sich andere Städte zum Vorbild. Die »Bettelsatzungen« häuften sich erkennbar in den neunziger Jahren.

Die wachsende Armut wird im öffentlichen Raum immer deutlicher sichtbar. Vertreibungen verheißen da vielen Städten eine relativ billige »Lösung« der sozialen Frage. Ein typisches Schlagwort, mit dem die Bettelverbote begründet werden, ist das »subjektive Sicherheitsgefühl der Bevölkerung«, ein Argument, das von einzelnen Gerichten bereits als irrational zurückgewiesen wurde.

Für Menschen, die »still« betteln, kehrt mit den Bettelsatzungen eine Situation wieder, die sich von der in den sechziger Jahren kaum unterscheidet. Der Unterschied zwischen den Straftatbeständen von damals und den Straßensatzungen von heute muss die Betroffenen, anders als die Juristen, nicht interessieren: Ihnen wird wieder ein friedliches Verhalten im öffentlichen Raum verboten. Bei Zuwiderhandlungen drohen »polizeiliche Maßnahmen«. Wer ein verhängtes Bußgeld nicht bezahlen kann, muss unter Umständen eine »Erzwingungshaft« absitzen.

Die allein regierende Hamburger CDU hat zu dem geplanten Bettelverbot inzwischen eine Arbeitsgruppe eingerichtet. Der Widerspruch der SPD fällt ziemlich leise aus. Man hat nicht vergessen, wer bereits im Jahr 1996 ein Bettelverbot für Hamburg durchsetzen wollte: der damalige sozialdemokratische Bürgermeister Henning Vosche­rau.