Peinlich, arm und nicht vorgesehen

Der Wirtschaftsboom in Japan ist lange vorbei, doch noch immer tut sich die Gesellschaft mit der neuen Armut schwer. ron steinke (text) und hideaki takamatsu (fotos) haben Obdachlose in Tokio und Slums in Osaka besucht.

Morgens um 4.45 Uhr spielt sich in den Großbahnhöfen von Tokio eine eigenartige Szene ab. Immer wieder wird dieselbe Durchsage abgespielt, deren unschuldiger Ton sich in nichts von den vielen Werbeansagen unterscheidet, die tagsüber zur Klang­kulisse der Stadtzentren gehören. »Das Aufstellen von Pappkartons zum Schlafen ist im Bahnhof gesetzlich untersagt. Bitte entfernen Sie diese Sachen so schnell wie möglich! Vielen Dank für Ihr Verständnis.« Die Menschen, die sich in den Gängen rie­siger Bahnhöfe wie Shinjuku, Shibuya oder Ueno in improvisierten Behausungen aus Pappkartons aneinanderreihen, regen sich, stehen auf und packen hektisch ihre Habseligkeiten zusammen.

Innerhalb von wenigen Minuten sind die eben noch schlafenden Bewohner in verschiedene Richtungen verschwunden, die Bahnhofs­passagen sind plötzlich leer. Es ist ein geräusch­loser Abgang. Wenn die ersten Züge einfahren und in den Bahnlinien der Metropole die rush hour einsetzt, macht im Bahnhof nichts mehr die täglichen Besucher auf die nächtlichen Bewohner aufmerksam. So wächst Japans Armutsproblem seit Jahren, diskret verborgen vor den Augen der Öffentlichkeit.

Das Ausmaß der Armut ist in Japan im Vergleich zu Europa oder den USA noch immer gering. Aber das Problem wächst seit 15 Jahren. Nach Schätzungen von sozialen Organisa­tio­nen hat sich die Zahl der »Nojuku«, also derer, die unter freiem Himmel schlafen, allein in den vergangenen zehn Jahren verfünffacht. Die erfolgsverliebte japanische Gesellschaft versucht das relativ neue Problem noch immer zu begreifen – und übt sich zwischenzeitlich in Verdrängung.

Die Straßenzeitung The Big Issue Japan trägt seit dem Jahr 2003 dazu bei, das Schweigen zu brechen. Das Projekt unterstützt Obdachlose dabei, sich selbst zu helfen. In einer kleinen Wohnküche im Norden Tokios, die als Büro dient, werden die Verkäufer morgens mit grünem Tee begrüßt. Draußen bricht die Hektik in der größten Stadt Asiens an, laufen die Bürger sich für ihre tägliche Beeilung warm, werden im Stadtzentrum die Großbildschirme mit Werbung eingeschaltet. Drinnen scherzen die Männer, die ihre Nacht im Bahnhof, im Park oder auf der Straße verbracht haben. Sie stellen sich mir mit japanischer Freundlichkeit und Verbeugung vor. Mit Nachnamen: Mori-San, Oda-San, Takaha­shi-San.

Obdachlosigkeit trifft in Japan fast ausschließlich Männer. Auch unter den Verkäu­fern des Big Issue befinden sich nur zwei Frauen. Viele der Männer waren ihr Leben lang Tagelöhner, kamen für große Bauprojekte wie die Olympiade 1964 nach Tokio und finden im Alter keine Arbeit mehr.

Bis zum Zusammenbruch der japanischen Börse im Jahr 1992 gab es kaum Arbeitslosigkeit, ein staatliches Sozialsystem wurde entsprechend wenig entwickelt. »Selbst wenn die Wirtschaft wieder anspringt, werden wir zu alt sein«, sagt Mori-San. »Die Regierung hat gewusst, dass das passieren wird, aber trotzdem für uns kein Rentensystem organisiert.« Neben ehemaligen Tagelöhnern landen zunehmend Menschen auf der Straße, die zuvor in einer der großen Firmen im Büro gearbeitet haben.

Diese Armut wird in der Öffentlichkeit selten thematisiert. Als der Wirtschaftsprofessor Toshiaki Tachibanaki aus Kyoto im Jahr 1998 über die wachsende Kluft zwischen den Einkommens­gruppen in Japan (den so genannten »Gini-Koeffizienten«) schrieb, war ihm noch entgegengehalten worden, dass die Einkommensungleichheit in Japan immer noch im Durchschnitt der OECD-Staaten liege. Inzwischen hat sich dieser Einwand erübrigt. In der ehemals relativ homogenen japanischen Gesellschaft sind die Einkommensunterschiede inzwischen fast so hoch wie in den USA und so stark entwickelt wie in kaum einem anderen OECD-Staat, was eine neue Vergleichsstudie belegt.

Erst seit wenigen Jahren veröffentlicht die Regierung realistische Zahlen über die Obdach­losigkeit im Land. Diesen offiziellen Zahlen zufolge sind es 26 000 Menschen, die in Japan täglich unter freiem Himmel schlafen, davon 6 000 in Tokio. Dabei sind Menschen, die in Notunterkünften schlafen und nach deutscher Definition auch als wohnungslos gelten würden, in diesen Zahlen nicht enthalten.Minister­präsident Junichiro Koizumi spricht von den Obdachlosen als der »Gruppe mit der schlechtesten Bildung«, die auf der untersten Stufe der japanischen Gesellschaft stünde.

Takahashi-San lebt seit zwei Jahren auf der Straße, davor hat er 25 Jahre lang als Wachmann gearbeitet. Seit sieben Monaten verkauft er das Big Issue. Er grinst, als wir uns am Morgen an seinem Stammplatz am Westausgang des Bahn­hofs Shinjuku postieren, auf der Seite, die dem Geschäftszentrum im Westen der Stadt zugewandt ist. »Schau zu und lerne!« Er streift abgewetzte weiße Handschuhe über, hält mit einer Hand einen Stoß Hefte hoch und beginnt, im Singsang die Ware anzupreisen.

Es ist kurz vor neun Uhr morgens, an uns zieht ein Strom von Geschäftsleuten vorbei, an dessen An- und Abschwellen man den Rhythmus der einfahrenden U-Bahnen erkennen kann. Ein Heft kostet 200 Yen (umgerechnet 1.40 Euro), etwas mehr als die Hälfte davon erhält der Verkäufer. In den ersten zwei Stunden verkauft er kein einziges Heft.

Als der Fußgängerverkehr mittags abflaut, fällt mir auf, dass viele Passanten einen Bogen um uns machen. Selbst den wenigen Käufern merkt man ihr Unbehagen an, wenn sie nach dem Kauf sofort schnell weitergehen. Jetzt, da weniger Menschen unterwegs sind, verkauft Takahashi-San mehr Zeitungen als in den betriebsamen Stunden. Bis zur Mittagspause sind es acht Hefte; die meisten wurden von Frauen gekauft.

Takahashi-San hat sein Schlaflager nur wenige Meter von seinem Arbeitsplatz entfernt eingerichtet. Unter einem Baum steht ein großer Pappkarton, darauf ist Kleidung zum Trocknen ausgebreitet. An dem Baum lehnt auch ein kleiner Reisig­besen. Damit halten er und seine zwei Nachbarn ihre kleine Ecke sauber, so viel Ordnung ist ihnen wichtig. Für diese Männer käme es auch nie in Fra­ge zu betteln. Ihr Stolz ist das letzte, was sie sich bewahren können.

Wir stehen direkt gegenüber dem noblen Keio Plaza Hotel, in der Nähe der modernen Zwillingstürme der Stadtverwaltung, also im finanziellen und politischen Zentrum der Stadt.

Das Projekt The Big Issue Japan entstand vor zwei Jahren in Osaka. Die Metropole im Westen Japans ist tagsüber, wenn die Leute aus dem Umland zur Arbeit kommen, mit 17 Millionen Menschen die zweitgrößte Stadt des Landes. Nachts bleiben davon knapp drei Millionen zurück.

Am südlichen Rand des wohlhabenden Stadtkerns liegt Kamagasaki, Japans größter Slum. Schätzungsweise 30 000 Tagelöhner leben dort, jeder Zehnte schläft auf der Straße. Der Altersdurchschnitt liegt bei 60 Jahren, Kinder gibt es kaum noch. »Ka­ma­ga­sa­ki stirbt«, sagt der amerikanische Foto­graf Shannon Higgins, der das vergan­gene Jahrzehnt im Slum dokumen­tiert hat.

Er erzählt, wie er an einem Wintermorgen einen obdachlosen Mann auffand, der offenbar erstochen worden war. »Ich musste 30 Minuten lang auf die Polizei warten – an einer Stelle, die von der Polizeiwache drei Minuten entfernt ist. Als er eintraf, trat der Polizeibeamte erst mal den am Boden liegenden Toten. Er wollte sehen, ob der Mann nicht schläft.«

Die Stadtverwaltung Osakas hält sich aus den Problemen in Kamagasaki weitgehend heraus. Die Yakuza hingegen, die japanische Mafia, unterhält hier etwa 90 Büros. Durch ihre halblegalen wirtschaftlichen und politischen Aktivitäten sind die Verbrecher­syndikate mit der gesellschaftlichen Elite verflochten. In der Form von Firmennamen finden sich die Namen der großen Syndikate auf Klingelschildern und im Telefonbuch. So ist es der Yakuza auch möglich, in Gebieten wie Kamagasaki quasi­staatliche Parallelstrukturen zu unterhalten.

Im Oktober 1990 kam es hier tagelang zu Straßenschlachten zwischen den Bewohnern und der Polizei, nachdem herausgekommen war, dass der örtliche Polizeichef eine Summe von umgerechnet 20 000 Euro dafür ent­gegengenommen hatte, dass die Yakuza den morgendlichen Arbeitsmarkt der Tagelöhner beherrscht.

Als sich rund 200 empörte Tagelöhner, von deren Lohn die Yakuza rund 30 Prozent »Gebühr« einbehält, vor der Polizeiwache versammelten, rief die Polizei 2 000 bewaffnete Kollegen herbei. Die Kämpfe tobten im ganzen Viertel. Nach den Auseinandersetzungen wurde die Polizeiwache in Kamagasaki zu einer modernen Festung ausgebaut, in der sich 1 500 Polizisten zwei Wochen lang verschanzen können. Und Kamagasaki dürfte nun der erste komplett videoüberwachte Slum der Welt sein.

Auch in Tokio kann man sich noch an die Zeiten vor etwa zehn Jahren erinnern, als Obdachlose von der Polizei mit Gewalt vertrieben wurden. Am Westausgang des Bahn­hofs Shinjuku, wo heute Takahashi-San das Big Issue verkauft, schliefen Mitte der neun­ziger Jahre über 200 Menschen ohne Wohnung. Ihre Pappkartons bildeten eine lange Reihe entlang der Bahnhofspassage. Im Januar 1996 räumte die Polizei die Passage ge­waltsam. Die Stadt baute die Seiten der Bahn­hofspassage mit einem Rollband für Fußgänger und einer dichten Reihe von Plas­tikskulpturen zu. Trotzdem finden heute noch jede Nacht etwa 40 Männer Platz für einen Pappkarton oder ein Stück Plane. Inzwischen lässt man die Schlafenden im Bahn­hof in Ruhe, solange sie morgens um kurz vor fünf der Durchsage gehorchen und sich entfernen, bevor sie jemand sieht.

In Tokios Parks verschwinden die Wohnungslosen nicht bei Tagesanbruch aus dem Stadtbild. Hier sind in den letzten Jahren regelrechte Siedlungen entstanden, die von den Politikern geduldet und weitestgehend ignoriert wurden. In den kleinen Zeltstädten haben sich kollektive Strukturen gebildet. Dazu gehört ei­ne Art Dorfvorsteher, der in Verhandlungen mit der Polizei als Gesprächspartner auftritt. Die Bewohner der Parks stammen ursprünglich aus allen gesellschaftlichen Schichten. Wer in eines der charakteristischen Zelte aus Holz und blauer Plane gebeten wird, kann dort Reihen ordentlich auf­gestellter Bücher und Zeitschriften entdecken. Die Schuhe bleiben dabei natürlich draußen, schließlich ist man in Japan.

Gegen die Pläne von Tokios rechtskonservativem Gouverneur Shintaro Ishihara, die Siedlungen in öffentlichen Parks zur »Wiederherstellung des Freizeitwerts« aufzulösen, formiert sich seit dem Sommer Widerstand unter den Wohnungslosen. Zwar sehen die Pläne des Gouverneurs eine Verlegung in städtische Notunterkünfte vor. Dafür müssen die Betroffenen aber auf weitere staatliche Unterstützung verzichten, einschließlich der Krankenversicherung. Die Selbsthilfeorganisation »Koen-no-kai« (»Parkkollektiv«) setzt sich hingegen dafür ein, dass die Leute im Park bleiben können.

Takahashi-San hat heute 14 Hefte verkauft. »Kein schlechter Tag«, sagt er. Weil es kalt ist und er schon die ganze Zeit darüber witzelt, wie sehr ich zittere, macht der Verkäufer heute etwas früher Schluss. Feierabend bedeutet, den kleinen Wagen mit Zeitschriften ein paar Meter weiter zum Schlafplatz zu rollen, wo die zwei Platz­nachbarn auch schon eingetroffen sind. Eine ältere Frau hat jedem eine Bento-Box geschenkt, ein japanisches Lunch­paket nach Art einer Flugzeugmahlzeit.

Um fünf Uhr schaltet die Stadt die Straßenlaternen ein und das noble Keio Plaza Hotel seine Weihnachtsbeleuchtung. Wir blicken auf die modernen Zwillingstürme der Stadtregierung, wo bis spät in die Nacht Licht brennt. Hier, im finanziellen und politischen Zentrum der Stadt, beginnt gerade wie­der die rush hour.