Stimmzettel im Öltank

Während die Wahlbeteiligung im Zentralirak stieg, sank sie im Norden des Landes. Denn viele Kurden sind unzufrieden mit der Klientelwirtschaft der großen Parteien. von martin roddewig, suleymaniah

Die Wähler sind wütend. Sie trommeln an Türen und Fenster der Wahlkomission in der Stadt Halabja im Nordirak, in der Hoffnung, den Wahlleiter sprechen zu können. Die Stimmung ist aggressiv. Verschwörungstheorien kursieren, viele vermuten, dass die Araber schuld sind. »Rückkehrer aus dem Iran dürfen wählen, ich wohne mein Leben lang in Halabja und darf nicht wählen«, empört sich Mirwan Ahmed, seine in kurdischer Tracht herausgeputzte Tochter auf dem Arm.

Wie er haben sich viele Wähler früh morgens zu den Wahlbüros aufgemacht, nur um dort zu erfahren, dass sie nicht im Verzeichnis eingetragen sind. Der Wahlleiter ist hilflos, die Gesetze sind eindeutig: Wer auf keiner Liste steht, darf nicht wählen.

Die offenkundig unvollständigen Wählerlisten waren im ganzen Land ein Problem bei den Wahlen zum irakischen Parlament am 15. Dezember, aber eine der wenigen wirklich bedeutenden Unregelmäßigkeiten. Sie dokumentieren, wie schwierig es ist, in einem Land freie, gleiche und geheime Wahlen zu organisieren, in dem in einigen Provinzen blutiger Terror herrscht, in dem es zwischen Nord und Süd, zwischen Arm und Reich und zwischen den Bevölkerungsgruppen gewaltige Unterschiede gibt.

Die meisten Probleme konnten von der Wahlkommission gelöst werden, wenn auch mit manchmal drakonischen Maßnahmen. Die internationalen Grenzen und die Grenzen zwischen den Provinzen wurden geschlossen, vor den Wahlen herrschte eine nächtliche Ausgangssperre, am Wahltag selbst von Mitternacht bis zur Schließung der Wahllokale Fahrverbot. Ganze Straßenblocks um die Wahllokale wurden abgesperrt, um Selbstmordattentate zu verhindern. Der Grenzpolizei gelang es am Dienstag vor den Wahlen, Hunderte von Urnen mit gefälschten Stimmzetteln sicherzustellen, die in einem Ölktankwagen aus dem Iran eingeschmuggelt werden sollten.

Die Wahlkommissionen wurden mit unabhängigen Kandidaten besetzt, alle lokalen Parteien und Nichtregierungsorganisationen konnten Wahlbeobachter entsenden. Aber selbst diese Maßnahmen gingen dem Vorsitzenden der Wahlkomission der Provinz Suleymaniah, dem ehemaligen Richter Scheikh Latif, nicht weit genug: »Sicher, wir haben viele Instrumente, um Manipulationen zu verhindern, aber eines fehlt uns: Die Wahlkommissionen haben keine wirkliche Macht. Wenn wir offensichtliche Unregelmäßigkeiten entdecken, können wir einen Bericht schreiben, der wird nach Bagdad geschickt und dort abgeheftet, und das war’s. Es gibt kein Gesetz, das Manipulationen unter Strafe stellt.«

314 Parteien waren zur Wahl zugelassen. Die meisten wurden erst vor kurzem gegründet und sind so obskur, dass selbst die Experten in den vielen TV-Talkshows zur Wahl Mühe hatten, überhaupt etwas zu ihnen zu sagen. Da die künftige Regierung insbesondere gegenüber den arabischen Nachbarn demokratisch legitimiert auftreten will und den arabischen Sunniten kein Anlass gegeben werden sollte, die Wahl zu boykottieren, wurden auch Parteien zugelassen, die offensichtlich keine Chance hatten, mehr als eine Handvoll Wähler zu gewinnen.

Wahlen im Irak sind nach wie vor re­gional geprägt, weniger von Sachthemen oder Personen. Und so dominierte im Nordirak die Patriotische Demokratische Allianz Kurdistans, sie konnte in den ländlichen Regionen über 90 Prozent der Stimmen gewinnen. In der kurdischen Allianz haben sich die beiden großen Parteien, die Patriotische Union Kurdistans und die Kurdische Demokratische Partei, sowie einige kleinere Parteien wie die Assyrische Patriotische Partei und die Kommunistische Partei Kurdistans zusammengeschlossen.

Die kurdische Allianz erzielte bei den Wahlen im Januar auf den Irak hochgerechnet über 25 Prozent der Stimmen, wurde die zweitstärkste politische Kraft und stellt derzeit acht Minister. Möglich war dieser Erfolg nur durch die außergewöhnlich hohe kurdische Wahlbeteiligung. Die Menschen nahmen im gebirgigen Norden weite Wege in Kauf, standen stundenlang an, um nach dem Sturz der Ba’ath-Diktatur erstmals in demokratischen Wahlen ihre Stimme abzugeben.

Dementsprechend viel stand für die kurdischen Politiker diesmal auf dem Spiel. Durch die Beteiligung vieler arabisch-sunnitischer Parteien würde sich das Kräfteverhältnis im Irak sowieso ändern, es kam nun darauf an zu verhindern, dass die Verschiebungen allzu groß ausfallen. Alles wurde versucht, um die Wähler erneut an die Urnen zu treiben: Popstars wie der populäre Sänger Zakariah wurden aus dem Ausland für Konzerte eingeflogen, Wahlkämpfer zogen in Autokonvois hupend und Fähnchen schwenkend durch die Straßen, patriotische Fernsehspots sollten im Zehn-Minuten-Takt für Stimmung sorgen.

Aber die stellte sich nicht ein. In den für den erhofften Massenandrang mit vielen Absperrungen aufwändig umgebauten Schulgebäuden erschienen in den Großstädten nur wenige Wähler. Nur in den ländlichen Regionen war die Wahlbegeisterung ungebrochen, doch in vielen Bezirken lag die Beteiligung am Ende kaum über 50 Prozent. Damit steht der kurdische Norden gegen den irakischen Trend. Sowohl der schiitische Süden als auch der sunnitische Zentralirak meldeten eine hohe Wahlbeteiligung, im Landesdurchschnitt lag sie bei knapp 70 Prozent.

Die Terrorgruppen verzichteten auf Anschläge, viele Geistliche und andere lokale Autoritäten im Zentralirak hatten zur Teilnahme an den Wahlen aufgerufen. Arabisch-sunnitische Parteien werden im neuen Parlament vertreten sein, einige ihrer Abgeordneten haben bereits die Beteiligung an einer Koalitionsregierung gefordert. Unklar ist noch, ob die Koalitionsliste schiitischer Parteien und Geistlicher ihre Hegemonie im Süden halten konnte und ob gesamt­irakische Gruppierungen wie die Irakische Nationale Liste des ehemaligen Premierministers Iyad Alawi diesmal mehr Erfolg hatten. Doch auch wenn das Endergebnis wohl erst in zwei Wochen verkündet wird, kann die kurdische Allianz schon heute als Verlierer der Wahlen gelten.

Die Gründe sind auch den Politikern bekannt, in den vielen TV-Talkshows und auf der Straße äußerten viele Kurden sie ganz offen: Sie haben die Klientelwirtschaft der beiden großen kurdischen Parteien satt. Zwar hat der Nord­irak, anders als der Rest des Landes, in den vergangenen zwei Jahren einen ungeahnten wirtschaftlichen Boom erlebt, die Arbeitslosigkeit wurde gesenkt.

Aber die Schattenseiten sind nicht zu übersehen: In den Städten entstehen repräsentative Prunkbauten, wenige Kilometer weiter haben die Menschen in vielen Dörfern nicht einmal sauberes Trinkwasser. Lukrative Unternehmen wie Hotels und Tankstellen sind quasi in Parteibesitz. Viele der neu geschaffenen Arbeitsplätze sind überflüssige Stellen in einer aufgeblähten Bürokratie. Nur mit Beziehungen oder durch ausgewiesene Loyalität zu einer der Parteien kommt man an Jobs und billiges Bauland. Viele Menschen sind deshalb den Wahlen ganz bewusst fern geblieben.

Erst am Abend kommt in Suleymaniah ein wenig Stimmung auf. Auf der Hauptstraße fahren hupende Autokonvois auf und ab, aus denen laute Musik dröhnt. Ein paar Passanten schießen Feuerwerksraketen ab. Es sind im Wesentlichen Anhänger der Patriotischen Union Kurdistans und bezahlte Wahlkämpfer, die noch eine Ehrenrunde drehen, bevor sie ihre mit Fahnen und Plakaten behängten Autos wieder abschmücken.