Der Dämonenjäger aus der Wüste

Peretz hat bessere Chancen als seine Vorgänger, der Arbeitspartei die Stimmen der armen Israelis zu sichern. Doch sein Lebenslauf bietet auch Angriffspunkte für seine rechten Gegner. von michael borgstede, tel aviv

Auch Amram Mitzna galt einmal als junger, viel versprechender Außenseiter. Wie aus dem Nichts erschien er vor zwei Jahren auf der politischen Bühne des Landes, bezwang die alten Herren der Arbeitspartei und machte sich daran, einer ziellos dahinsiechenden Partei neues Profil zu geben.

Eine Trennanlage zum Westjordanland müsse gebaut werden, forderte er. Auch die Räumung des Gaza-Streifens stand auf seinem Programm. Doch bei den Wahlen Anfang 2003 wurde Mitzna von Ariel Sharon vernichtend geschlagen. Dass Sharon nur wenig später die meisten Pläne seines Konkurrenten verwirklichte, ist eine amüsante Fußnote der Geschichte.

Doch woran war Mitzna wirklich gescheitert? Sicher, trotz seiner ansehnlichen Militärkarriere vertrauten die meisten Israelis Sharon bei der Sicherheitspolitik mehr. Zugegeben, Mitzna schien zu weich, zu überlegt, zu intellektuell. Er war in seiner Partei nicht fest verankert, war vielleicht auch einfach zu unbekannt. Doch vor allem fiel er dem »ethnischen Dämon« zum Opfer, der die Arbeitspartei seit fast 30 Jahren peinigt und den sie nicht los wird, den sie nicht einmal wirklich versteht.

In seiner ganzen Brutalität begegnete Mitzna dem »ethnischen Dämon« während einer Wahlkampfveranstaltung in einem verarmten Ortsteil im Süden Tel Avivs. Der damalige Vorsitzende der Arbeitspartei sprach über die wachsende Armut und seinen Einsatz für die sozial Schwachen. Nichts hätte seinen Zuhörern näher am Herzen liegen müssen. Plötzlich brüllte ein Mann wütend in eine von Mitznas Pausen: »Und wenn der Likud mich Müll fressen lässt und du mir eine Villa am Meer versprichst – meine Stimme kriegst du nicht!« Mitzna schaute verwirrt in die Menge. Was hatte er getan, um von diesem Menschen mit dem dunkleren Teint so verachtet zu werden?

Der Staat Israel wurde 1948 von europäischen Juden gegründet, den so genannten Aschkenasim. Von der eigenen kulturellen Überlegenheit überzeugt, wollten sie den neuen Staat nicht nur zu einem Zufluchtsort für Juden aus aller Welt machen, er sollte auch als ein Außenposten europäischer Kultur, ein »Bollwerk gegen den levantinischen Geist« fungieren. Doch der junge Staat brauchte Bewohner, und die waren schon bald nicht mehr nur Angehörige der durch den Holocaust stark dezimierten Aschkenasim, sondern kamen aus den orientalischen Ländern. Tunesische, ägyptische, persische, irakische und marokkanische Juden kamen mehr oder weniger freiwillig nach Israel.

Nicht alle Aschkenasim waren von dieser Entwicklung begeistert. »Die Primitivität dieser Menschen ist nicht zu übertreffen«, schrieb Arie Gelblum damals in der Tageszeitung Ha’aretz über die »Misrachim«. Angesichts der nach Israel strömenden Menschenmengen begann der Wohnraum bald knapp zu werden, orientalische Einwanderer wurden in »Entwicklungsstädten« in der Wüste angesiedelt, weitab der aschkenasisch dominierten Metropolen im Zentrum des Landes.

Offiziell waren sie gleichwertige Staatsbürger, doch viele Misrachim litten an der unverhohlenen Arroganz der europäischen Elite und fühlten sich – oft zu Recht – diskriminiert. Erst 1977 verstand Menachem Begin es, diese angestauten Frustrationen politisch für sich zu nutzen, und führte den Likud mit den Stimmen der Misrachim zum Sieg. Seitdem kann die Rechtspartei auf die feste Unterstützung jener Bevölkerungsgruppe rechnen.

Das soll sich nunmehr ändern. Der Gewerkschaftschef Amir Peretz, der bei der Wahl zum Vorsitzenden der Arbeitspartei überraschend gegen den »Elder Statesman« Shimon Peres gewonnen hat, hat angekündigt, den »ethnischen Dämon« begraben zu wollen. Das haben andere zwar schon vor ihm versucht, doch hat Peretz einen entscheidenden Vorteil. Er wurde 1952 in Marokko geboren, emigrierte 1956 mit seiner Familie nach Israel und wurde in einem Durchgangslager im Negev untergebracht.

»Als Kind einer Entwicklungsstadt, der sein ganzes Leben dort verbracht hat, bitte ich um eure Stimmen, meine Brüder in den Entwicklungsstädten«, sagte er jüngst auf einer Wahlveranstaltung. »Der Likud, der einst die Interessen der Benachteiligten vertrat, hat sich jetzt mit einigen Millionären verbündet. Und so wie Menschen 1977 rebelliert und Begin gewählt haben, so werden sie auch heute gegen Netanyahu rebellieren.« Galt bisher in Israel: »It’s the security, stupid«, so will Peretz die soziale Frage wieder in den Mittelpunkt rücken. Das ist, kurz und prägnant, die Taktik, mit der er bei den Neuwahlen Ende Februar antreten will, die er durch die Ankündigung, dass die Arbeitspartei sich aus der Regierungskoalition zurückziehen werde, erzwungen hat.

Aus dem Durchgangslager entwickelte sich das verschlafene, konservative Städtchen Sderot, Peretz war dort in den sechziger Jahren einer der wenigen Rebellen. Ein Che-Guevara-Poster soll seine Zimmerwand verziert haben. Mit 14 Jahren verfasste er mit einigen Freunden sein erstes Flugblatt, schon damals ging es um mehr soziale Gerechtigkeit. Vier Jahre später wurde er zur Armee eingezogen und 1974 auf dem Sinai schwer verletzt. Ein ganzes Jahr war er ans Bett gefesselt, dann konnte er sich zumindest im Rollstuhl fortbewegen. Er kaufte einen kleinen Bauernhof und lernte, noch im Rollstuhl, seine Frau Achlama kennen, mit der er vier Kinder hat. Trotz gegenteiliger Voraussagen seiner Ärzte lernte er wieder laufen. 1983 ließ er sich bei der Bürgermeisterwahl in Sderot aufstellen und gewann. Seit 1988 sitzt er in der Knesset, 1995 wurde er zum Vorsitzenden des Gewerkschaftsverbands Histadrut gewählt, den er mit Geschick, aber auch mit einer eisernen Faust regiert.

Seine Vita bietet einige Angriffspunkte für seine politische Gegner. Er verfügt außer seinem Schulabschluss über keine weitere akademische Ausbildung und hat es in der Armee nicht über den Rang des Hauptmanns hinausgebracht. Außerdem trat er früh der Friedensbewegung Peace Now bei, eine Tatsache, die ihm im Wahlkampf als linker Extremismus ausgelegt werden dürfte.

Tatsächlich propagiert Peretz seit langem einen unabhängigen palästinensischen Staat in den Grenzen von 1967, eine Überzeugung, die derzeit in der israelischen Gesellschaft keine Mehrheit finden würde. Schon jetzt ist deshalb abzusehen, dass Israel in den nächsten Monaten einen harten und schmutzigen Wahlkampf erleben wird. Dabei ist es egal, ob Sharon als Vorsitzender des Likud antritt oder seine eigene Partei gründet. Die Rechten dürften versuchen, Peretz als unbelehrbaren Bolschewisten darzustellen, als international unerfahrenen Politiker und als linksextremistischen Naivling in Friedensfragen. Bisher hat Peretz nur den chronischen Wahlverlierer Shimon Peres besiegt. In näherer Zukunft wird er sich Herausforderungen eines ganz anderen Kalibers stellen müssen.