Klettern nach Europa

Mehrere Flüchtlinge starben bei dem Versuch, die spanische Exklave Melilla in Nordafrika zu erreichen. Menschenrechtsgruppen machen die Guardia Civil für die Todesfälle verantwortlich. von thorsten mense

Die Guardia Civil begann uns zu attackieren und benutzte, wie immer, die härtesten Methoden dafür. Den elektrischen Schlagstock, Handschellen, Tränengas, Gummigeschosse, scharfe Munition.« So schildert ein Flüchtling aus Kamerun die derzeitige Situation am Stadtrand der spanischen Exklave Melilla an der Nordküste Afrikas.

Seit August vergangenen Jahres versuchen Flüchtlinge immer wieder, in großen Gruppen von zum Teil mehreren hundert Menschen nachts die Grenzanlagen zu überwinden. Offizielle Stellen sprechen von mehr als 11 000 Menschen, die auf diese Weise nach Melilla gelangen wollten. Meist teilen sie sich in mehrere Gruppen und versuchen, mit selbstgebauten Leitern die Zäune zu überwinden.

In letzter Zeit hat die Zahl dieser Durchbruchversuche erneut stark zugenommen, und damit auch die Gewalttätigkeit der Sicherheitskräfte. Mindestens fünf Menschen sind seit Ende August bei dem Versuch gestorben, nach Melilla zu gelangen. Vieles spricht dafür, dass die spanische paramilitärische Polizeieinheit Guardia Civil für die Todesfälle verantwortlich ist.

Die kleinen Städte Melilla und Ceuta sind die letzten Überreste der spanischen Kolonien im Norden von Marokko, eine zwölf Kilometer lange Grenze trennt den Vorposten Europas von Afrika. Mehrere Hundert Flüchtlinge, die meisten aus Zentralafrika, warten in den nahe gelegenen Wäldern auf die nächste Chance, ihren Traum von einem besseren Leben in Europa zu verwirklichen. Viele halten diesen Weg für weniger gefährlich als den Versuch, auf selbstgebauten Booten die Meerenge von Gibraltar zu duchqueren. Nach Schätzungen der Grenzpolizei konnte im Jahr 2004 nur knapp die Hälfte der Schiffbrüchigen gerettet werden.

In Melilla und Ceuta wird schon jetzt das praktiziert, was Innenminister Otto Schily mit seiner Idee der Auffanglager außerhalb der europäischen Grenzen erreichen will. Da es rechtliche Verpflichtungen gegenüber Flüchtlingen gibt, die bereits in der EU sind, will man sie daran hindern, europäischen Boden zu erreichen. Mit allen Mitteln.

Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Asociación Pro Derechos Humanos en Andalucia hat sich bei den ersten bekannt gewordenen Todesfällen Ende August folgendes zugetragen: In der Nacht auf den 29. August versuchten 52 Menschen, nach Melilla zu gelangen. Sie teilten sich in drei Gruppen, eine Gruppe von 16 Personen wurde kurz darauf von der Guardia Civil entdeckt. Die Polizisten fingen sofort an, mit Gummigeschossen auf die Menschen an den Zäunen zu schießen.

Als Verstärkung eintraf, hatten es acht Flüchtlinge bereits geschafft, die Zäune zu überwinden. Zwei von ihnen spuckten schon Blut, was die Polizisten aber nicht davon abhielt, ihnen zu zeigen, dass sie in Europa unerwünscht sind: »Beamte der Guardia Civil begannen, die acht am Boden liegenden Migranten mit Gewehrkolben und Elektroschlagstöcken zu schlagen. Einer der acht Migranten sah, wie einer der Mitflüchtlinge, die Blut spuckten, sich nicht mehr bewegte.« Danach wurde der leblose Körper mit den anderen Verletzen durch eine kleine Tür zurück in marokkanisches Hoheitsgebiet geschleift. Erst am nächsten Tag wurde die Leiche des 17jährigen Ypo Joe aus Kamerun dort geborgen, die Leiche eines 21jährigen Kameruners wurde später in einem Krankenhaus ausfindig gemacht.

Die Augenzeugenberichte über die anderen Todesfälle sind ähnlich. Die Reaktion Spaniens auf den Tod der jungen Kameruner war eindeutig: Für 1,4 Millionen Euro wurde der Grenzzaun von drei auf sechs Meter erhöht. Währenddessen bescheinigte der spanische Innenminister José Antonio Alonso den Beamten der Guardia Civil »große Professionalität und absolute Verhältnismäßigkeit in ihrer Antwort auf die Flut von Menschen, die Zugang zu der spanischen Stadt haben wollen«.

Um diese »Flut« abzuwehren, gab der Innenminister vergangene Woche bekannt, die Zahl der Sicherheitskräfte erneut erhöhen zu wollen. Der Abgeordnete der spanischen Regierung für Melilla, José Fernández Chacón, ist ebenfalls »überzeugt«, dass die Guardia Civil »überhaupt nichts« mit den Todesfällen zu tun habe. Dagegen spricht die Erklärung von Médicos Sin Fronteras, der spanischen Sektion von Ärzte ohne Grenzen, die bei dem ersten toten Flüchtling »einen sichtbaren runden Bluterguss in Höhe der Brust« feststellte. »Diese Art von Hämatomen ist charakteristisch für Einschläge von Gummigeschossen.«

Solche Geschosse werden nur von der spanischen Grenzpolizei eingesetzt. Amnesty International und das spanische Flüchtlingshilfswerk Cear fordern »eine lückenlose Aufklärung der illegalen Abschiebungen, die mit mehreren Verletzten und zwei toten Kamerunern endeten«. Das Vorgehen der Grenzbeamten scheint System zu haben. Wer es geschafft hat, den Grenzzaun zu überwinden, wird nicht selten brutal geschlagen und dann zurückgeschickt. Die »kleine Tür« im Grenzzaun, die zurück nach Marokko führt, kommt in fast allen Berichten vor. Die Organisation SOS Racismo spricht von 271 solcher illegaler Abschiebungen in Ceuta in den vergangenen drei Monaten.

Der Verdacht, dass die Sicherheitskräfte für die Todesfälle verantwortlich sind, wird auch dadurch erhärtet, dass die marokkanische Polizei zwei Tage nach den Vorfällen eine großangelegte Razzia in den Zeltlagern nahe der Stadt durchgeführt hat, bei der nicht wenige Augenzeugen der Vorfälle verhaftet und an die algerische Grenze gebracht wurden.

Wie überall an den Außengrenzen Europas wird auch hier deutlich, dass die Regierungen die Flüchtlinge vor dem Grenzübertritt stoppen wollen. Im Oktober vergangenen Jahres bewilligte das spanische Parlament 130 Millionen Euro, um die Küste zu Afrika besser zu sichern. Mit dem neuen Überwachungssystem Sive will der spanische Staat die südliche Grenze Europas endgültig dicht machen. Bis 2008 soll die Zahl der Patrouillenboote von 17 auf 71 erhöht werden, 13 mobile Radarüberwachungsanlagen sind geplant, dazu neue Wachttürme, Infrarotkameras, Kontrollzentren, Hubschrauber und Sensoren, mit denen selbst der Herzschlag eines Menschen geortet werden kann.

Die offizielle Begründung lautet, dass man den schiffbrüchigen Flüchtlingen so besser helfen könne. In einem Bericht der Guardia Civil heißt es dazu: »Wenn es auch nur noch einen Toten gibt, ist es einer zu viel.« Näher an der Realität erscheint die Schilderung eines kongolesischen Flüchtlings über sein erstes Zusammentreffen mit der Guardia Civil in Ceuta: »Er hielt mir die Pistole an den Kopf und drückte mich auf die Knie. Dann sagte er mir, das einzige Asyl, das ich hier finden würde, wäre der Tod.« Willkommen in Europa.