»Die Isolationshaft gab es schon vor der RAF«

Christiane Ensslin

In den letzten Monaten gab es in den Medien zahlreiche Berichte, in denen die Haftbedingungen der RAF in den siebziger Jahren als privilegiert und die Kampagnen gegen die »Isolationsfolter« als Propagandalügen bezeichnet wurden. Als Beitrag zu dieser Diskussion können Gudrun Ensslins Briefe aus dem Gefängnis an ihre Geschwister Christiane und Gottfried aus den Jahren 1972 und 73 angesehen werden. Die gesammelten Briefe erschienen jüngst unter dem Titel: »Zieht den Trennungsstrich, jede Minute« im Konkret Literatur Verlag. Mit Christiane Ensslin sprach Dagmar Brunow.

Was hat Sie bewogen, die Briefe Ihrer Schwester nach über 30 Jahren zu publizieren?

Vorab möchte ich sagen, dass ich in den vergangenen Jahren immer wieder auch Angehörigen von Opfern der RAF begegnet bin. Teilweise ging die Initiative von ihnen aus, bei einigen von mir, oder wir trafen uns unverabredet z.B. bei Talkshows. Bei aller Unvereinbarkeit in der Einschätzung der RAF erfuhr ich von ihnen Respekt für meine Trauer um Gudrun. Mir ist es wichtig festzuhalten, dass ihre Trauer um ihre Angehörigen von uns ebenso respektiert wird.

In der Auseinandersetzung um die Berliner RAF-Ausstellung hat diese Unvereinbarkeit in der Einschätzung der RAF eine Ausstellung verhindert, die die RAF aus ihrer Zeit erklärt. Stattdessen gab es einen Wettbewerb nach dem Motto: Wer entmythologisiert die RAF am besten. Manche schrieben zu diesem Zweck ganze Bücher.

Für uns war das der Anlass, die Briefe zu veröffentlichen. Sie leisten eine politische Vergegenwärtigung der Zeit von 1968 bis ’73, die in der aktuellen Debatte um die RAF zu kurz kommt. Es gibt einen starken Bedarf, die RAF-Leute zu dämonisieren. Sie werden als gewaltsüchtige Individuen gehandelt, die durch terroristische Machtausübung persönliche Defizite ausagierten. In dem Maß, wie man dabei Andreas Baader zum hirnlosen »infernalisch Bösen« gemacht hat, wurde unsere Schwester zum intellektuellen Oberhaupt stilisiert. Überspitzt formuliert werden heute die Ursachen für die RAF im schwäbisch-protestantischen Pfarrhaus statt im Kapitalismus gesucht.

Sie haben Gudrun Ensslin, die nach ihrer Verhaftung im Juni 1972 in die JVA Essen kam, einmal pro Monat besucht. Was haben Sie von den Haftbedingungen mitbekommen?

Gudrun kam wie damals alle anderen Gefangenen aus der RAF in »strenge Einzelhaft«, wie das im Justizjargon hieß. Weil Astrid Proll, die im Mai 1971 verhaftet wurde und im »Toten Trakt« der JVA Köln-Ossendorf saß, zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach ohnmächtig geworden war, kam es zwischen den RAF-Mitgliedern, die im Sommer 1972 verhaftet wurden, und denen, die schon 1970 und 1971 inhaftiert waren, zu Auseinandersetzungen, weil über diese Haftform bis dahin nichts bekannt war. Die Gefangenen drinnen und wir draußen mussten lernen, was das ist, Isolationshaft, und dass man sie nicht jahrelang unbeschadet aushalten kann. Für die Justiz dagegen war das nicht fremd. Isoliert wurden seit jeher Gefangene, die man gefängnisintern bestrafen oder die man zu Aussagen bewegen wollte. Neu war, dass zum ersten Mal eine Gruppe inhaftiert wurde, die sich kollektiv und mit Hilfe der politischen Öffentlichkeit draußen dagegen wehren konnte.

Wie sah Ihr Engagement draußen gegen die Isolationshaft aus?

Im Februar 1973 gab es den ersten öffentlichen Protest gegen die Isolationshaft in der Bundesrepublik: ein viertägiger Hungerstreik der Anwälte vor dem BGH in Karlsruhe. In den folgenden Monaten sind in vielen Großstädten Komitees gegen Isolationshaft entstanden. Wir in Köln skandalisierten die Isolationsfolter, die im »Toten Trakt« der JVA Köln an Ulrike Meinhof, Astrid Proll und später auch an meiner Schwester Gudrun vollzogen wurde.

Heute mehren sich die Stimmen, dass die Haftbedingungen gar nicht so schlimm gewesen seien.

Heute wird mit der Behauptung von einem »Mythos Isolationshaft« versucht, die Gefangenen zu Lügnern über ihre Haftbedingungen zu machen. Den Startschuss dazu gab die taz 2002 mit einem Interview mit dem inzwischen pensionierten Chef der Vollzugsbeamten von Stuttgart-Stammheim, Horst Bubeck. In seinen selektiven Erinnerungen fantasiert sich Herr Bubeck als vom Staat mit Andreas Baader im Knast allein gelassen. Davon schreiben noch heute viele ab. Aber gerade die Wissenschaftler und Journalisten, die das tun, sind am nächsten an den Archiven dran, mit denen Herrn Bubecks Erinnerungen korrigiert werden könnten.

Alle Gefangenen, die 1974 nach Stammheim kamen, waren davor in Isolationshaft, Holger Meins starb im November 1974 im Hungerstreik in Isolationshaft. Von den Gefangenen, die in Stammheim waren, gibt es keine mündliche oder schriftliche Äußerung, in der sie über ihre Haftbedingungen lügen. Auf der anderen Seite gibt es zu jeder ihrer Forderungen bezüglich ihrer Haft immer umgehend Stellungnahmen der Justiz, in der die Haftbedingungen als besonders privilegiert dargestellt wurden anhand der Zahl der Anwaltsbesuche, der Zeitungsabonnements, Bücher usw.

Meine Schwester und ihre Mitgefangenen haben in Stammheim für eine Vergrößerung der Kleingruppe gekämpft. In den anderen Gefängnissen waren fast alle anderen Gefangenen aus der RAF in Isolationshaft. Einige von ihnen konnten sich bis heute nicht davon erholen.

Worin sehen Sie das Versagen der Linken?

In den siebziger Jahren ist es der Linken nicht gelungen, die Isolationshaft zu überwinden, und dadurch gab es damals keinen Raum für eine produktive Diskussion mit den Gefangenen aus der RAF. Der Fehler der RAF war, dass sie den Kampf gegen die Isolationshaft mit der Propaganda für den bewaffneten Kampf verband. Und der Fehler staatlicherseits war, dass er den Kampf gegen Isolationsfolter gleichgesetzt hat mit »Sympathisantentum«. Die Hysterie und Hetze in der damaligen Zeit ist heute schwer nachvollziehbar.

In der Nacht zum 18. Oktober 1977 starben Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe unter bis heute ungeklärten Umständen in Stammheim. Sie haben lange zu den Todesursachen geforscht.

Es gibt weder eindeutige Beweise für Mord noch für Selbstmord. Sollte der Staat selbst Hand angelegt haben, auch z.B. über einen Geheimdienst, wäre das qualitativ etwas völlig anderes als wenn die Gefangenen in den Suizid hineingetrieben worden wären. Ich bin mit einer Gleichsetzung nach dem Motto »alles Repression« überhaupt nicht einverstanden.

Sie plädieren für eine Rekontextualisierung der RAF. Welche Aspekte sind Ihnen dabei wichtig?

Ohne den Vietnam-Krieg, ohne die Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika und Lateinamerika hätte es keine RAF gegeben. Ohne die Isolationshaft hätte es keine zweite und dritte Generation der RAF gegeben. Nicht erfüllt ist bis heute der Auftrag, dem sich die Mitglieder der RAF verpflichtet gefühlt haben und der in ihren Texten und in den Schriften von Revolutionären aus der ganzen Welt in der damaligen Zeit nachgelesen werden kann. Frantz Fanon sprach in seinem auch für die RAF grundlegenden Werk »Die Verdammten dieser Erde« von einem »kalten Völkermord« in den Ländern der so genannten Dritten Welt. Seither sind über eine Milliarde Menschen an Hunger und leicht heilbaren Krankheiten gestorben. Dafür muss jemand die Verantwortung übernehmen.