Rückkehr der Sonne

Eine Bundeskanzlerin Angela Merkel könnte die Anti-Atomkraft-Bewegung wieder beleben. von jochen stay

Der von der rot-grünen Koalition mit den Stromkonzernen im Jahr 2000 ausgehandelte so genannte Atomkonsens hat möglicherweise bereits das Ende seiner Laufzeit erreicht. Während Bundesumweltminister Jürgen Trittin (Grüne) weiter versucht, eine der größten Niederlagen der Grünen als großen Erfolg zu verkaufen, und darauf hofft, dass es immer noch Menschen gibt, die ihn für einen Ausstieg wählen, der nie stattgefunden hat, stellen sich die anderen atompolitischen Akteure bereits auf die mögliche neue Kanzlerin ein.

Jahrelang schien alles ehern festgelegt, sowohl die Energieversorger als auch die Regierung beriefen sich auf ihre Abmachung und lobten den Atomfrieden. Jetzt entsteht neue Dynamik. Die Stromkonzerne wittern genauso wie die Anti-Atom-Bewegung ihre Chance. Sollte es im Herbst eine Bundeskanzlerin Angela Merkel geben, dann steht vieles von dem zur Disposition, was einmal als unumkehrbar bezeichnet wurde. Die einen wollen die Laufzeiten der älteren Reaktoren weiter verlängern, die anderen hoffen darauf, dass die atomkritische Öffentlichkeit nach den uneingelösten Ausstiegsversprechen der Bundesregierung die Sache nun wieder selbst in die Hand nimmt.

Die Betreiber der Atomkraftwerke wissen, dass es viel Fingerspitzengefühl braucht, um wirklich das zu bekommen, was sie sich wünschen. Selbstverständlich würden sie die Reaktoren gerne so lange weiterlaufen lassen, bis sie wirklich auseinander fallen. Die Privatbank Sal. Oppenheim hat ausgerechnet, dass der zusätzliche Gewinn der Energiekonzerne Eon und RWE 4,6 bzw. 3,4 Milliarden Euro betragen würde, wenn ihre Atommeiler noch acht Jahre länger betrieben werden könnten, als von der Bundesregierung ohnehin schon zugesichert.

Aber da die Bevölkerung die Nutzung der Atomkraft mehrheitlich weiter ablehnt, geben sich die Kraftwerksbetreiber zurückhaltend. Sie stünden zu den im Atomkonsens getroffenen Vereinbarungen, seien aber an neuen Vorschlägen aus der Politik interessiert, sagte die Sprecherin des Verbandes der Elektrizitätswirtschaft (VDEW), Patricia Nicolai, vor kurzem. Ein Interesse am Neubau von Atomkraftwerken wird sogar völlig dementiert: »Das wäre nicht vermittelbar, auch nicht in der Öffentlichkeit – egal in welcher politischen Konstellation«, meinte Klaus Rauscher, Vorstandsvorsitzender von Vattenfall Europe, im Handelsblatt.

Ähnlich verhalten hören sich einige Stimmen aus dem Lager derjenigen an, die möglicherweise bald das Land regieren. Der Umweltexperte der CDU, Peter Paziorek, spricht sich ebenfalls gegen neue Atomkraftwerke aus und will die laufenden Reaktoren höchstens acht Jahre länger am Netz lassen. Noch defensiver klingt es bei der CSU: »Die Vereinbarung zur Begrenzung der Reststrommengen zwischen Wirtschaft und Politik kann nur aufgelöst werden, wenn beide Seiten sagen, dass sie Änderungen wünschen«, wird die Energiepolitikerin Gerda Hasselfeldt von der Netzeitung zitiert.

Und selbst die Kanzlerin in spe, Angela Merkel, die sich noch vor wenigen Monaten für unbeschränkte Betriebszeiten von Atomkraftwerken aussprach, wurde in ihrer energiepolitischen Grundsatzrede auf der Jahrestagung der VDEW sehr vorsichtig: »Auch die Laufzeit von Kernkraftwerken ist nicht unendlich.« Sie wolle der Stromwirtschaft nach der Bundestagswahl ein »Angebot« machen, sagte sie vieldeutig und schob damit die Entscheidung und Verantwortung den Konzernen zu.

Die neue Zurückhaltung hat ihren Grund: Bereits wenige Tage nach der Ernennung von Merkel zur Kanzlerkandidatin waren Teile der Öffentlichkeit in Sachen Atomenergie hellhörig wie schon lange nicht mehr. Die ehemalige Umweltministerin gilt zu Recht als Freundin der Atomindustrie, und schon die Vorstellung, sie könnte zukünftig wieder für die alternden Reaktoren zuständig sein, beunruhigte die Atomkraftgegner.

»Die Anti-Atom-Bewegung ist wachgerüttelt«, meinte Hubert Weinzierl, der Präsident des Deutschen Naturschutzrings, und warnte vor der »Atomkraftkanzlerin«. Auf dem Evangelischen Kirchentag Ende Mai in Hannover waren die Infostände der Atomkraftgegner von Menschen umlagert, die empört erklärten, jetzt sei es an der Zeit, wieder aktiv zu werden.

Spürbar war die neue Stimmung auch auf dem Kongress McPlanet.com, den der Bund Umwelt- und Naturschutz (BUND), Greenpeace und Attac Anfang Juni an der Universität Hamburg veranstalteten. 1 500 Menschen waren gekommen, um gemeinsam den Zusammenhang von Konsum, Globalisierung und Umwelt zu diskutieren. Das Thema Atomenergie war dabei in aller Munde.

Die Journalistin Annette Jensen skizzierte auf dem Kongress die Gelegenheit für eine neue starke Protestbewegung »für den Fall, dass eine neue Bundesregierung die Laufzeiten der Atomkraftwerke verlängert: Die Castor-Demonstrationen liefern die Bilder, die Etappenziele sind die AKW-Schließungen, es gibt Ökostrom als Alternative und 60 Prozent der Deutschen sind weiter gegen AKWs.« Die taz kommentierte: »Die Konsequenz aus dem Strategietreffen in Hörsaal B: Eon kann sich schon mal warm anziehen.«

Auf der Abschlussveranstaltung im voll besetzten Audimax sprach sich Gerd Leipold, der Geschäftsführer von Greenpeace International, dafür aus, den Kampf gegen die Atomindustrie zu einem der zentralen Themen der kommenden Monate zu machen. Sven Giegold von Attac rief zu einer Umweltbewegung auf, die wieder kämpft und die Protest bis hin zum zivilen Ungehorsam organisiert. Als einen der ersten Höhepunkte nannte auch er den Castor-Transport im November nach Gorleben.

Selbst Gero von Randow, Redakteur der Zeit und einer der eifrigsten Vertreter einer Renaissance der Atomkraft, rechnet mit mehr Protesten: »Zwar hüten sich CDU und FDP, das Kernkraftthema allzu prominent zu verfolgen, aber ihre erklärte Absicht ist die Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke. Das wird Ärger geben. Hier meine Prognose: 1. Die ›Atomkraft-Nein-Danke‹-Sonne kommt wieder. 2. Anfang November Castor-Proteste in Gorleben. 3. Die medienerfahrene Anti-AKW-Bewegung wird den Protest im April 2006 zuspitzen – zum 20. Jahrestag des Unglücks von Tschernobyl. Und es sieht nicht danach aus, als sei die Gegenseite auf dieses Revival der Anti-AKW-Bewegung vorbereitet.«

Der November im Wendland könnte also zum Prüfstein für die Anti-Atomkraft-Bewegung werden. Sieben Wochen nach der Wahl dürfte sich die Atompolitik der künftigen Regierung abzeichnen. Als Sofortmaßnahme hat die CDU bereits die Wiederaufnahme der Arbeiten im Gorlebener Endlager angekündigt. Derzeit bildet sich ein Bündnis für eine bundesweite Anti-Atom-Demonstration am 5. November in Lüneburg.

Rot-Grün hingegen scheint schon fast vergessen. »Wir haben in 28 Jahren Gorleben-Konflikt schon viele Regierungen kommen und gehen sehen«, beschreibt ein Aktivist aus dem Wendland die Situation. »Erfolg hatten wir immer dann, wenn viele Menschen auf die Straße gegangen sind. Kreuze auf dem Wahlschein waren dagegen meist unerheblich.«