Staatstrauer ohne Angehörige

Der erste Jahrestag der Terroranschläge in Madrid wird am 11. März als großer Staatsakt begangen. Aber der Abschlussbericht der parlamentarischen Untersuchungskommission liegt noch nicht vor. von tom kucharz, madrid

Die Angehörigen der Opfer der Terroranschläge in Madrid am 11. März 2004 sind nicht gut auf die Politiker des Landes zu sprechen. »Es ist traurig«, erklärte Pilar Manjón, die Sprecherin des Vereins »11M Opfer des Terrorismus«, in der vergangenen Woche, »dass die Kommission nicht fähig ist, sich auf einen Abschlussbericht zu einigen.« Die parlamentarische Untersuchungskommission zum 11. März wollte spätestens in dieser Woche einen Abschlussbericht vorlegen. Die konservative Partei PP sträubte sich aber gegen die Verabschiedung des Papiers, das die Sozialdemokraten (Psoe) und die Vereinte Linke mit Unterstützung anderer Parteien am Dienstag vergangener Woche vorstellten. Der PP begründete seine Ablehnung damit, dass es »noch viel zu untersuchen« gebe. Dabei war es der PP, der seit Monaten alles versuchte, um die Arbeit des Ausschusses einzustellen.

»Aus Rücksicht auf den PP« habe man bereits »mehrere Zeilen in dem Dokument geändert«, sagte der Psoe-Abgeordnete Diego Lopez Garrido. Man sei auch nicht auf die Tage zwischen dem Attentat und den Wahlen eingegangen, um einen Konsens zu finden.

Das vorliegende Papier enthält unter anderem Vorschläge, wie in Zukunft Attentate verhindert werden könnten. Die Polizeieinheiten sollen ebenso verdreifacht werden wie die Geldesumme, die im Staatshaushalt für den »Kampf gegen den Terrorismus« bereitgestellt wird. Vorgesehen ist zudem, die Kompetenzen der Geheimdienste zu erweitern, die Armee in deren Arbeit einzubinden und den Datenaustausch mit anderen Ländern zu vereinfachen. Da die Täter keine »internationalen«, sondern »lokale Radikale« waren, sei es »enorm wichtig, die Frustrations- und Marginalisierungsgründe der muslimischen Migranten« zu beseitigen und »den Terrorismus so zu isolieren«, heißt es in der Vorlage. Deshalb wolle man die Integration muslimischer Gemeinden fördern.

Viele wichtige Fragen werden in dem vorgelegten Papier allerdings nicht beantwortet. Beispielsweise warum al-Qaida sich ausgerechnet Madrid für den Anschlag aussuchte und die politischen Verantwortlichen nicht auf die Warnungen der Geheimdienste reagierten.

Wer hinter dem Anschlag steckt und wie er ausgeführt wurde, gilt zwar als weitgehend aufgeklärt, aber niemand weiß die Gefahr neuer Attentate einzuschätzen. Nach Polizeiangaben sind weiterhin fünf der mutmaßlich 16 ausführenden Täter auf der Flucht. Sechs Terroristen sprengten sich Anfang April 2004 in einer Madrider Vorstadtwohnung in die Luft, als die Polizei sie festnehmen wollte. El Mundo berichtete in der vorigen Woche, dass dort Daten gefunden worden seien, die auf einen weiteren Anschlag deuteten. Demnach hatte die gleiche Gruppe vor, wenige Monate später in der Central Station von New York ein kollektives Selbstmordattentat zu begehen.

Im Zusammenhang mit dem 11. März gab es insgesamt 74 Festnahmen, einige davon im Ausland. 22 Tatverdächtige sind weiterhin in Haft. International gesucht werden Mustafa Setmarian und Mohamed Salen, die als Vertrauensmänner von Ussama bin Laden bzw. Gründer der al-Qaida-Zelle in Spanien gelten und mit den Anschlägen vom 11. März in Verbindung stehen sollen. Gleiches gilt für den mutmaßlichen Anführer des al-Qaida-Netzwerks in Europa, Abu Duhan al-Afgani. Den Untersuchungsakten zufolge steht sein Name in einem auf 2003 datierten Dokument radikal-islamistischer Intellektueller, die forderten, »Spanien vor den Wahlen 2004 anzugreifen, um einen Rückzug der spanischen Truppen aus dem Irak zu erreichen«.

Wie im Laufe der parlamentarischen Untersuchung bekannt wurde, erforschten spanische Geheimdienste seit Jahren den islamistischen Terrorismus. Sie wussten von der »wachsenden Gefahr« eines Anschlags aus dem Umfeld des internationalen Jihad und setzten die Regierung von José María Aznar davon in Kenntnis. Ohne Folgen. Unzählige Medien berichten dieser Tage, wie die Islamisten in Spanien über Jahre hinweg feste Strukturen aufbauten. Doch weder die Parteien noch die zuständigen Institutionen nahmen diese Entwicklung ernst. Stattdessen richtete sich alle polizeiliche und juristische Aufmerksamkeit auf die baskische Eta und ihre Sympathie. Selbst auf der Webseite des spanischen Innenministeriums findet sich unter der Rubrik »Eta« noch immer eine Meldung, derzufolge diese die Attentate am 11. März verübte.

Zum Jahrestag versuchen Regierung und Opposition, die Tragödie für ihre politischen Zwecke auszunutzen. Gegen den Willen der Betroffenen veranstalten sie am Freitag unzählige Trauerfeierlichkeiten. Die Opfer und ihre Angehörigen haben es hingegen satt, von den Parteien funktionalisiert zu werden, und lehnen die Teilnahme an den Feierlichkeiten ab.

Der 11. März wurde von der Regierung zum »nationalen Trauertag« erklärt. Am Mittag soll es in allen staatlichen Einrichtungen fünf Schweigeminuten geben. Zu der Uhrzeit, als die Nahverkehrszüge explodierten, sollen in ganz Madrid die Kirchenglocken läuten. Der zentrale Staatsakt findet an dem kürzlich vollendeten Denkmal statt, dem so genannten Wald der Abwesenden im Stadtpark Retiro. Teilnehmen werden unter anderem die Königsfamilie, das Kabinett, sämtliche Parteivorsitzende sowie mehr als 50 Staatsgäste, darunter der König von Marokko und Bill Clinton. Die Mehrheit der anreisenden Regierungschefs bzw. ehemaligen Präsidenten wird auch an der internationalen Konferenz über Demokratie, Terrorismus und Sicherheit teilnehmen. Kofi Annan will dort die geplanten Maßnahmen der Uno zur Terrorismusbekämpfung vorstellen.

Die aktuelle Beschneidung der bürgerlichen Freiheiten in Spanien könne nicht direkt mit dem 11. März in Verbindung gesetzt werden, meint Raul Maillo, Präsident des Freien Anwältevereins. »Die Psoe-Regierung war etwas vorsichtiger als ihre Vorgängerin«, gesteht er zu, »richtig ist aber auch, dass wir seit Jahren gleichsam ein Versuchslabor waren, wenn es darum ging, die Terrorbekämpfung zu einem zentralen Element des Strafrechts zu machen.« Auf diesem Feld habe ausschließlich die Staatsanwaltschaft Kompetenzen. Andere juristische Instanzen könnten deshalb nicht auf die Prozesse Einfluss nehmen, um die Aufrechterhaltung rechtlicher Freiheiten zu überprüfen. In den vergangenen zwölf Monaten habe es zwar keine ähnlichen Gesetzesinitiativen gegeben wie in den USA und in Großbritannien, »aber spätestens in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode« hole die Psoe-Regierung diese Differenz auf, glaubt Maillo.

Besorgt ist die spanische Kommission für Flüchtlingshilfe (CEAR) vor allem über die Zunahme »präventiver Abschiebungen«. Nach Aussagen von Patricia Rivas, der Pressesprecherin der Kommission, verstoße die Regierung mit der Begründung, es handle sich um Maßnahmen im Interesse der »nationalen Sicherheit«, immer häufiger gegen das international geltende Asylrecht.