Wenn überhaupt, dann dort

Die Erinnerung an den Holocaust dient hierzulande dazu, nationale Identität zu stiften. von deniz yücel

Im Mai 1945, kurz nach der deutschen Kapitulation, erschien in der New York Times ein Kommentar, der die Frage stellte, was mit diesem Deutschland passieren solle, das einen Kontinent in Schutt und Asche gelegt und 50 Millionen Tote hinterlassen hatte. Man möge die Verantwortlichen bestrafen, den anderen helfen und Frankfurt oder Leipzig wieder aufbauen, lautete die Antwort. Berlin aber, jenen Ort, in dem Krieg und Massenmord geplant worden waren, solle man evakuieren und einstampfen.

Es kam anders. Doch mag dieser frühe Beitrag zur Hauptstadt- und Mahnmalsdebatte daran erinnern, dass aus der Vernichtung der Juden ganz andere Konsequenzen zu ziehen gewesen wären, als ausgerechnet in Berlin ein zentrales Mahnmal zu errichten. Obendrein an dem symbolischen deutschen Ort schlechthin, neben Reichstag und Brandenburger Tor.

Doch nicht alle mögen sich mit dem dortigen Ensemble inklusive des »Schandmals« (Martin Walser) abfinden, am wenigsten die Nazis. Schon vor fünf Jahren marschierte die NPD am Brandenburger Tor und zog am Mahnmalsgelände vorbei, das damals noch eine Brache war. Auf der anderen Seite des Tors gab es eine Protestkundgebung, während sich einige hundert Linksradikale lieber außerhalb der Sichtweite der »bürgerlichen« Kundgebung und in Wurfweite der Nazis platzierten. Doch das war unwichtig. »Bundestagspräsident Thierse führt Gegenveranstaltung an«, titelte tags darauf der Tagesspiegel und freute sich im Leitartikel, es sei »Berlin« gelungen, »mit demokratischen Mitteln zu bestimmen, welche Bilder und Signale von der Hauptstadt ausgehen sollen«.

Nun will die NPD abermals dorthin, und schon meldet sich nicht nur eine große Koalition, die es den Nazis ein für allemal gesetzlich untersagen will, an der heiligen Stätte zu demonstrieren. Auch das obligatorische linke Bündnis hat sich gefunden. Die skandalöse Formulierung aus dem Gesetzentwurf, der Orte schützen will, die »an die Opfer einer organisierten menschenunwürdigen Behandlung erinnern«, scheint nebensächlich. Das Ziel lautet: Kein Fußbreit den Faschisten, erst recht nicht dort!

Gewiss dürften sich nicht viele Linke finden, die eine Vereinnahmung des Brandenburger Tors durch die Nazis fürchten. Das Holocaust-Mahnmal aber wollen auch Linke geschützt wissen. Doch wem das eine egal ist, wer gar der Auffassung ist, dass die Nazis mit Recht das Brandenburger Tor für sich beanspruchen können und lieber alle Tage dort rumhängen sollten als anderswo auf Menschenjagd zu gehen, wer davon überzeugt ist, dass die Schleifung dieses Tores eine wahrhaft antifaschistische Tat wäre, kann sich gegenüber dem anderen ebenso gleichgültig verhalten.

Dieses Mahnmal ist kein Platz, den die Überlebenden und Bezwinger der deutschen Barbarei errichtet haben. Es ist kein Mahnmal der Juden, denen nicht einmal zugestanden wurde, die Mitwirkung des Zyklon-B-Herstellers Degussa zu verhindern. Dieses Mahnmal ist ein deutsches Symbol, auf das die Landsleute eines Tages vielleicht so stolz sein werden, dass sie es auf ihre Münzen prägen. Zuzutrauen wäre es ihnen allemal.

»Nach Auschwitz können wir nationales Selbstbewusstsein allein aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehenen, sondern kritisch angeeigneten Geschichte schöpfen«, argumentierte Jürgen Habermas gegen Ernst Nolte, der Auschwitz den Bolschewiki in die Schuhe schieben wollte. Das Programm, Auschwitz nicht zum Anlass zu nehmen, mit Deutschland zu brechen, sondern aus Auschwitz »nationales Selbstbewusstsein« zu schöpfen, ist längst regierungsamtlich.

Das Mahnmal, allgemeiner: die Rede über die Shoah, dient hierzulande nicht nur dazu, Läuterung zu beweisen und mehr »weltpolitische Verantwortung« zu reklamieren. Bei ihrem nächsten Krieg werden die Deutschen ohne einen Hinweis auf ihre Geschichte auskommen. Auschwitz aber ist, gleichzeitig mit dem Ableben der Wehrmachtsopas, Partei-Omas und Reichsbahnonkel, zum Bestandteil deutscher Identitätsbildung geworden. Andere Leute haben die Bastille gestürmt oder die Philosophie erfunden, wir haben die Juden umgebracht (und wurden dafür, was auch nicht zu vernachlässigen ist, ausgebombt). Auch das schafft Einigkeit und Identität. Gerhard Schröders Wunsch, das Mahnmal möge zum Ort werden, »zu dem die Leute gerne hingehen«, entspricht dem Zweck der Sache.

Wer aber aus guten Gründen Plätze meidet, die Deutsche zahlreich und gerne aufsuchen, kann es getrost dem Staat und seinen Bediensteten überlassen, nationale Symbole zu schützen.