Links überholen

Die Wirtschaftspolitik im Irak von jörn schulz

Der Schiit lebt nicht vom Beten allein. Wie fast alle anderen Listen propagierte die von Schiiten dominierte Vereinigte Irakische Allianz deshalb neben religösen und politischen Forderungen auch ein Sozial- und Wirtschaftsprogramm. Im Hinblick auf die Privatisierung begnügt man sich mit der Forderung nach einer »ausgewogenen Wirtschaftspolitik«, das Sozialprogramm fordert jedoch eine »universale Gesundheitsversicherung« und kostenlose Bildung für alle.

Dass schiitische Reaktionäre derzeit in der Sozialpolitik europäische Sozialdemokraten links überholen, liegt vor allem an den Erwartungen, die selbst der frömmste Wähler an seine Repräsentanten richtet. Die Arbeitslosigkeit wird in manchen irakischen Regionen auf 70 Prozent geschätzt, etwa sieben Millionen Menschen sind von Nahrungsmittellieferungen abhängig.

Das ba’athistische Regime hat einen mafiosen Staatskapitalismus hinterlassen. Die private Geschäftstätigkeit konzentrierte sich auf Handel und Schmuggel, die Industrie war überwiegend staatlich. Gemäß den derzeit gültigen kapitalistischen Dogmen müsste sie privatisiert werden, und die Gesetzgebung der US-Besatzungsmacht hat nach dem Krieg sehr schnell die Voraussetzungen dafür geschaffen. In Gang gekommen ist die Privatisierung noch nicht. Doch Ende des vergangenen Jahres beschlossen der Internationale Währungsfonds und der Pariser Club, der die Gläubigerstaaten vereinigt, dass der Irak als Gegenleistung für die Streichung von 30 Prozent seiner Schulden ein »Strukturanpassungsprogramm« durchführen muss.

Solche Beschlüsse beheben jedoch nicht den Mangel an Investoren, die bereit wären, eine Speiseölfabrik in Bagdad zu kaufen, deren Besuch sie den Kopf kosten könnte. Zudem haben die Beschäftigten zahlreicher Betriebe deutlich gemacht, dass sie Massenentlassungen, die einer Privatisierung zwangsläufig folgen würden, nicht akzeptieren werden. Immer wieder kommt es zu Streiks, bei denen die Arbeiter oft ihre Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen durchsetzen konnten. Viele Streiks richten sich auch gegen besonders unbeliebte Vertreter des Managements, das den Sturz Saddam Husseins zumeist unbeschadet überstanden hat.

Bei den Wahlen ging es vor allem um die Beseitigung der Folgen der jahrzehntelangen Diskriminierung der schiitischen und kurdischen Bevölkerung unter dem Ba’ath-Regime und die Sicherheit vor Terroranschlägen. In diesem Jahr sollen jedoch die juristischen Grundlagen für eine neue Staatsordnung geschaffen werden. Dann muss auch entschieden werden, ob es sozialstaatliche Absicherungen geben und wie die Deba’athisierung der Wirtschaft organisiert werden soll.

Die radikale Gewerkschafts- und Arbeitslosenbewegung, die von der Arbeiterkommunistischen Partei geführt wird, vertritt nur eine Minderheit. Ein Übergang zur selbstverwalteten Wirtschaft dürfte daher keine realistische Option sein. Zumindest aber könnte es den Irakis gelingen, soziale Absicherungen zu erzwingen. Es ist zwar nicht zu befürchten, dass die sozialen Bewegungen sich dem bewaffneten »Widerstand« anschließen, dessen Terror sich nicht zuletzt gegen Arbeiter und Gewerkschafter richtet. Aber irgend jemand muss das Öl fördern, bevor es verkauft werden kann. Zudem haben selbst viele Analysten eingesehen, dass eine extremistische Privatisierungspolitik den Wiederaufbau erschwert. Für die USA und die Übergangsregierung könnte es ein Gebot der Stabilisierungspolitik werden, sich den sozialen Frieden zu erkaufen und die kapitalistischen Dogmen den Notwendigkeiten des nation building unterzuordnen.