Das Jahr der Entscheidung

In diesem Jahr soll die Frage nach dem Status des Kosovo geklärt werden. Extremistische Nationalisten beteiligen sich auf ihre Art an einer Lösung der Probleme. von boris kanzleiter, belgrad

Oliver Ivanovic ist ein charmanter und intelligenter Mann. Der Vorsitzende der Partei »Liste für Kosovo« überrascht internationale Besucher gerne mit seinem geschliffenen Englisch. Am Dienstagabend vergangener Woche wurde er beinahe in Stücke gerissen. Gegen 22 Uhr explodierte eine Bombe unter seinem grauen Audi. Nur zufällig war der Anführer des moderaten Flügels der Kosovo-Serben zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Auto ausgestiegen.

Bisher weiß niemand, wer hinter dem Attentat steckt. Sicher ist hingegen etwas anderes: Die Bombe war nur das letzte Vorkommnis einer ganzen Serie von Ereignissen, die seit Ende des vergangenen Jahres auf eine deutliche Verschärfung der Sicherheitslage in der Region hindeuten. So marschierte im Dezember eine Truppe schwer bewaffneter albanischer Kämpfer im mazedonischen Dorf Kondovo auf und zog sich erst nach langwierigen, undurchsichtigen Verhandlungen wieder zurück. Und Anfang Januar drohte im südserbischen Presevo-Tal die Gewalt zu eskalieren, als ein serbischer Grenzsoldat einen albanischen Jungen beim illegalen Grenzübertritt erschoss. Tagelang demonstrierten Tausende Albaner für den Abzug der serbischen Armee aus der Grenzregion und verwandelten das Begräbnis in eine Demonstration.

Es sind viele Faktoren, die zu der überall spürbaren Anspannung beitragen. Eine der Hauptursachen dürfte aber in der wiederholten Ankündigung maßgeblicher Akteure der »internationalen Gemeinschaft« zu suchen sein, im Lauf des Jahres 2005 wichtige Schritte bei der »Lösung der Statusfrage« der Provinz zu unternehmen, wie der dänische UN-Verwalter Soren Jessen Peterson vergangene Woche in Wien erneut formulierte.

Mit dieser Politik beleben die internationalen Institutionen den nach dem Nato-Bombardement vom Frühjahr 1999 ruhig gehaltenen Konflikt. Bisher zählt das Kosovo mit seinen etwas über zwei Millionen Einwohnern nach internationalem Recht zu Serbien und Montenegro, obwohl die staatlichen Institutionen in der Provinz seit knapp sechs Jahren nichts mehr zu melden haben. Die Serben beharren dennoch felsenfest auf der Zugehörigkeit des Kosovo zu Serbien und werden darin von Russland und China unterstützt. Die zwei Staaten befürchten Auswirkungen in ihren eigenen Ländern, falls Ethnokämpfer eine Sezession verursachen sollten. Die politischen Vertreter der albanischen Mehrheitsbevölkerung drängen dagegen auf die möglichst schnelle Proklamation der staatlichen Unabhängigkeit, die sie ihrem Wahlvolk als die einzige Lösung für die sozialen Probleme anpreisen. Die ethnisch definierte nationale Ideologie ist dabei so verfestigt, dass es keine einzige politische Kraft im Kosovo gibt, die die Unabhängigkeit nicht als Dreh- und Angelpunkt ihrer Politik betrachten würde.

Ausgangspunkt für die veränderte Haltung der UN-Verwaltung zur Statusfrage, die nun so schnell wie möglich geklärt werden soll, waren Drohgebärden und Übergriffe albanischer Nationalisten im vergangenen Jahr. Sie machten deutlich, was geschehen könnte, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Gleichzeitig griffen im März nach Schätzungen der Uno-Übergangsverwaltung für das Kosovo (Unmik) über 50 000 randalierende Demonstranten verschiedene serbische Siedlungsenklaven an, zerstörten zahlreiche Häuser sowie über ein Dutzend orthodoxe Kirchen. 4 000 Serben und Roma ergriffen die Flucht.

Die Ausschreitungen richteten sich auch gegen Unmik-Institutionen und Soldaten der Kfor-Truppe, die dem Wüten vielerorts zusahen anstatt einzugreifen. Die internationalen Verwalter reagierten in der Folge konfus und erschreckt. Galt bislang die wie ein Mantra wiederholte Devise, dass erst menschenrechtliche und demokratische »Standards« erreicht werden müssten, bevor an die Statusfrage zu denken sei, kehrten sich nun die Prioritäten um. Mittlerweile heißt es bei der Unmik, diese Standards seien nur durch Fortschritte in der Statusfrage zu erreichen. Mit bemerkenswerter Leichtigkeit biegen sich Jessen Peterson und seine Mannschaft nun die tatsächliche Situation so zurecht, wie es ihnen angemessen erscheint. So sprach der UN-Verwalter in Wien davon, die Sicherheitslage habe sich in den letzten Monaten deutlich verbessert.

Hingegen warnte in der vergangenen Woche der tschechische Kosovo-Ombudsmann, Marek Novicki, vor einer »humanitären Katastrophe« in den serbischen Dörfern des Kosovo, deren Bewohner seit zwei Monaten bei klirrender Kälte von der Stromversorgung abgeschnitten sind. Von der verzweifelten Lage der über 200 000 Serben und Roma, die seit 1999 vor Übergriffen aus dem Kosovo flüchten mussten, ist bei Peterson ebenfalls nichts zu hören. Sie kehren nicht zurück, weil sie um ihre Sicherheit fürchten müssen.

Mit ihrer neuen Politik begibt sich die internationale Protektoratsverwaltung auf gefährliches Terrain. Während einerseits die noch etwa 100 000 Menschen zählende serbische Minderheit hingehalten wird und extremistische Kreise beginnen, den »Endkampf um das Kosovo« vorzubereiten, ermuntert die Unmik auf der anderen Seite auch albanische Extremisten, die dadurch eine schnelle Proklamation der herbeigesehnten Unabhängigkeit in erreichbarer Nähe wähnen. Mit der Festlegung auf 2005 als Jahr der Entscheidung hat unter den verschiedenen Bevölkerungsgruppen ein Wettkampf um die Schaffung der besten Ausgangsposition begonnen.

Wie die Lage ist, zeigt ein Bericht der einflussreichen International Crisis Group (ICG), den diese Ende Januar vorlegte. Die Gruppe warnt darin, dass eine weitere Verzögerung bei der Statusfrage zu einem Vorgehen der Albaner führen könnte. »Unter solchen Umständen«, schreibt die ICG, »könnten die Kosovo-Serben die serbischen Streitkräfte zum Schutz holen.« Die ganze Region würde dadurch »in neue Turbulenzen geraten«. ICG-Mitglied Wesley Clark, im Jahr 1999 Oberkommandierender der Nato, schlägt in einem Kommentar für das Wall Street Journal ganz im Sinne der verqueren Logik von Jessen Peterson vor, die neue Politik der Unmik weiter zuzuspitzen. Im Fall eines Vetos von Russland und China im UN-Sicherheitsrat gegen eine Unabhängigkeit sollten die USA eben eine »Koalition ihrer europäischen Alliierten« anführen, ein Referendum unterstützen und »Kosovo als einen neuen Staat« diplomatisch anerkennen. Wie in diesem Fall ein Exodus der restlichen Serben verhindert werden könnte, schreibt der General freilich nicht.

Auch eine andere Frage bleibt offen: Wer wird die gefechtsbereiten albanischen Nationalisten in Südserbien und Mazedonien nach der Proklamation eines unabhängigen Kosovo daran hindern, die Frage nach dem Status neu zu stellen?