Vom Nutzen des Beitritts

Ökonomische Verbesserungen sind von einem türkischen EU-Beitritt nicht zu erwarten. Eine Demokratisierung schon. Und das ist nicht wenig. von ahmet çakmak

Ob ein EU-Beitritt der Türkei tatsächlich die erhofften wirtschaftlichen Verbesserungen für die Bevölkerung zur Folge haben wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Der erste Faktor ist, ob im Zuge eines EU-Beitritts türkischen Staatsbürgern das Recht auf Freizügigkeit eingeräumt wird. Der türkische Staat will das Problem der Arbeitslosigkeit, mit deren Bekämpfung er sich abmüht, dadurch lösen, dass er einen Teil der überschüssigen Arbeitskräfte nach Europa exportiert. Allerdings ist schon jetzt absehbar, dass die Freizügigkeit zumindest für die kommenden 15 Jahre ein Wunschtraum bleiben wird. Denn selbst wenn die Europäische Union die Türkei in zehn Jahren als Vollmitglied aufnehmen sollte, hat sie signalisiert, dass sie in der Frage der Freizügigkeit, sofern sie diese überhaupt je gewähren sollte, eine viel längere Frist setzen wird. Ob aber die Europäische Union in zehn bis 15 Jahren noch immer eine attraktive Adresse für Arbeitssuchende sein wird und folglich die Freizügigkeit die erwünschten positiven Auswirkungen haben wird, ist heute noch nicht absehbar.

Für eine Verbesserung der Lebensbedingungen wäre es zweitens notwendig, dass die Zahl der Unternehmen, die in der Türkei mit hohen Profitraten für den Weltmarkt produzieren, derart ansteigt, dass die Arbeitslosigkeit verringert wird oder aber der Staat ein so hohes Steuereinkommen erzielt, dass er umfangreiche Sozialleistungen sichern kann. Es spricht wenig für die Annahme, dass eine EU-Mitgliedschaft dies bewirken oder einen wichtigen Beitrag dazu leisten wird.

Drittens, und das hängt mit den genannten Punkten zusammen, wären für eine spürbare Anhebung des Massenwohlstands umfangreiche ausländische Direktinvestitionen notwendig. Dies wiederum erfordert eine bessere Qualifizierung der türkischen Arbeitskräfte, einen erheblichen Ausbau der Infrastruktur sowie eine weitere Reform der rechtlichen Rahmenbedingungen. Wären diese Umstände gewährleistet, würden ausländische Direktinvestitionen auch so ihren Weg in die Türkei finden, egal, ob wir nun der EU beitreten oder nicht.

Aus wirtschaftlicher Perspektive betrachtet gibt es also keinen überzeugenden Grund dafür, von einem EU-Beitritt nennenswerte positive Auswirkungen zu erwarten. Zumal man nicht vergessen darf, dass eine Politik der fiskalischen Haushaltsdisziplin und der Inflationsbekämpfung, für die Europäer mit der Knute sorgen werden, auch nichts Gutes verheißt.

Die Linke diskutiert derweil einen EU-Beitritt der Türkei aus ihrer eigenen Perspektive, wie immer in dem Glauben, ihre Perspektive sei ohnehin identisch mit der Perspektive der Bevölkerung. Für die linke Diskussion sind in diesem Zusammenhang zwei Fragen von zentraler Bedeutung: Wird ein türkischer EU-Beitritt eine Demokratisierung des Landes bewirken? Und wird dies zu neuen imperialistischen Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnissen führen? Ich werde mich im Folgenden auf den zuerst genannten Punkt konzentrieren.

Ich denke, dass die EU die Türkei zu einer neuen Revolution von oben zwingen wird. Im Hinblick auf die Gesetzgebung ist dies teilweise bereits geschehen. Allerdings wäre es falsch, eine Revolutionierung des Überbaus allein auf die Gesetzgebung zu beschränken. Das zeigt ein Blick auf die erste verordnete Revolution in der türkischen Geschichte. Auch die Revolution unter Mustafa Kemal Atatürk war eine von oben, die vor allem mittels des Instruments der Bildung im Laufe der Zeit Früchte trug und die Modernisierung gesellschaftlich etablierte. Das Erstarken des religiösen Fundamentalismus ist meines Erachtens weniger darauf zurückzuführen, dass die Revolution unter Atatürk autoritär durchgeführt wurde, als vielmehr auf das Versagen des Systems in der Ökonomie. Folglich kann man nicht sagen, alle verordneten Modernisierungen seien a priori zur Erfolglosigkeit verurteilt.

Ob die Türkei in naher Zukunft eine zweite politische Revolution erleben wird, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Aber es deutet vieles darauf hin, dass diesmal nicht mittels der Bildung, in die sich die EU nicht einmischt, dafür aber mit veränderten Beziehungen des Staates zu seinen Bürgern Umwälzungen in Gang gesetzt werden.

Lange Zeit hieß es, in der Türkei sei es der Staat, der gesellschaftlichen Entwicklungen und Veränderungen im Weg stehe. Nun erleben wir, wie der Staat einen großen Teil dieser Hindernisse beseitigt. Wir werden sehen, ob sich nun eine gesellschaftsverändernde Dynamik von unten entfalten wird. Jedenfalls denke ich, dass die Linke keinen Grund hat, grundsätzliche Zweifel an einer Demokratisierung von oben zu hegen, schließlich hat sie im Kern stets selbst auf eine Modernisierung von oben hingearbeitet.

Neben der kemalistischen Revolution gab es in der Türkei eine weitere Erfahrung einer Revolutionierung des Überbaus: und zwar die Verfassung von 1961, die nach dem Putsch junger Offiziere in Kraft trat. Diese Verfassung gilt als eine der demokratischsten Verfassungen ihrer Zeit. In der Folge entstand eine Atmosphäre, in der sich linke Ideen verbreiteten, die Arbeiter sich zu organisieren begannen und sich eine starke Bewegung entfaltete. Allerdings eskalierten die politischen Konflikte, so dass die Grundlage für ein repressives Regime gelegt wurde. Der Putsch der Armeeführung vom 12. September 1980 beendete diese Phase, die begonnene Demokratisierung wurde, nicht zuletzt wegen der weltpolitischen Umstände, gestoppt.

Könnten nun wieder soziale Bewegungen entstehen, die den Staat zu einer ähnlichen Intervention wie 1980 provozieren? Nahe liegend wären etwa Bewegungen der Aleviten, Kurden oder Armenier. Allerdings deutet einiges darauf hin, dass der Staat willens ist zu versuchen, dieses Konfliktpotenzial langfristig zu absorbieren.

Nach der kemalistischen Revolution und der gescheiterten Demokratisierung von 1961 erleben wir derzeit im Zuge des EU-Beitrittsprozesses einen dritten Modernisierungsschub. Wenn gravierende weltpolitische Veränderungen oder eine ernsthafte Verschiebung des Gleichgewichts innerhalb des türkischen Staatsapparats ausbleiben, dürfte die Türkei am Ende dieses Prozess eine weitere Etappe auf dem Weg der Modernisierung bewältigt haben – selbst wenn diese Etappe schmerzhaft verlaufen und von Rückschlägen begleitet sein wird, was zuletzt die Reaktionen auf den EU-Bericht über die Lage die Minderheiten in der Türkei gezeigt haben.

Hierbei gilt es zu begreifen, warum der türkische Staat überhaupt in die EU will. Der türkische Staatsapparat ist bekannt für sein autoritäres, unnachgiebiges Selbstverständnis. Was aber ist nun passiert, dass dieser Staat offensichtlich dazu bereit ist, von diesem Selbstverständnis und seinem absoluten Machtanspruch abzurücken? Diese Frage bedarf einer genauen Analyse. Die gängigen Antworten, auch die aus der Linken, bleiben viel zu oberflächlich und sind wenig befriedigend.

Aus dem gegenwärtigen Demokratisierungsprozess müsste die Linke einige Lehren ziehen. Sie lebte stets im Glauben, Demokratisierung müsse zu einer Verbesserung der ökonomischen Lage der Bevölkerung und zu ihrer Aufklärung führen. Und Aufklärung wurde natürlich damit gleichgesetzt, dass die Bevölkerung auf Seiten der Linken Partei ergreife. Manchmal, aber eben nur manchmal, wie in der Türkei zwischen 1961 und 1980, kann es tatsächlich so kommen. Es scheint, als habe die Bevölkerung die Dinge verstanden. In Umfragen rangieren Arbeitslosigkeit und Elend ganz oben auf der Liste der dringenden Probleme, während Demokratisierung auf die hinteren Plätze verwiesen wird. Offensichtlich spüren die Menschen aus ihren Erfahrungen, dass Demokratie und Ökonomie nicht notwendig miteinander zusammenhängen. Dieses Verhältnis war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den kapitalistischen Zentren stark ausgeprägt, und weil die Linke historisch dort entstand, lebt sie noch immer in dem Glauben, dass mehr Demokratie mehr Wohlstand bedeute. Aber die Zeiten haben sich geändert, was die Bevölkerung, jedoch nicht die Linke verstanden hat.

Zudem reicht es nicht aus, nur politische Reformen zu fordern. Notwendig ist vielmehr eine Demokratisierung, die die Zellen der Gesellschaft erfasst: ein Ende der familiären Gewalt, eine Meinungs- und Organisationsfreiheit, die sich nicht auf die Kraft der Gesetze, sondern auf die Gesellschaft stützt, eine Bildung, die den Kern für kritisches Denken legt, eine ernsthafte Sanktionierung von Umweltzerstörungen und der Verletzungen der Rechte von Kindern und einiges mehr. Dies sind gegenwärtig die eigentlichen Elemente einer Demokratisierung der türkischen Gesellschaft. Diese würden für sich genommen eine Verbesserung der Lebensbedingungen bedeuten. Auch wenn manche dieser Punkte mit Bildung und Erziehung, andere mit den ökonomischen Möglichkeiten zusammenhängen, bleibt festzuhalten: Die Demokratie ist nicht deshalb wünschenswert, weil sie ein Mittel zum Zweck ist, sie ist an sich wünschenswert.

Ahmet Çakmak ist Professor für Ökonomie an der Marmara Universität Istanbul und publiziert unter anderem regelmäßig in den Tageszeitungen Radikal und Birgün. Die Übersetzung besorgte Deniz Yücel.