Tyrannei, Meuterei, Tyrannei

Auf Pitcairn wurde rund ein Viertel der männlichen Bevölkerung wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt. Die meisten Bewohner der Pazifik-Insel sind Nachfahren der »Bounty«-Meuterer. von melis vardar

Man muss diesen winzigen Flecken nicht gesehen haben, um von ihm zu träumen. Pitcairn ist vielleicht der abgelegenste bewohnte Ort der Welt und liegt irgendwo im Südpazifik, genauer: auf 25 Grad, vier Minuten südlicher Breite und 130 Grad, sechs Minuten westlicher Länge. Die Gambier-Islands sind 540 Kilometer entfernt, zu den Marquesas-Islands, Tahiti und der Osterinsel sind es jeweils 2 000 Kilometer. Einen Flugplatz gibt es auf Pitcairn nicht, ebenso wenig einen Hafen. Alle drei Monate kommt ein Versorgungsschiff, das Meilen vor der Küste ankern muss. Wer die Insel besuchen oder ihr entfliehen will, verbringt Tage oder gar Wochen auf See.

Am Anfang der Besiedlung stand eine Schlamperei der Royal Navy und eine Meuterei gegen sie. Im April 1789, wenige Monate vor der anderen großen Revolution jenes Jahres, rebellierte die Besatzung des britischen Handelsschiffs »Bounty« gegen ihren Kapitän William Bligh. Er und seine Leute wurden ausgesetzt, einige der Meuterer blieben auf Tahiti, wo sie gefasst wurden. Der Anführer der Meuterer aber, Fletcher Christian, landete im Januar 1790 mit acht Getreuen sowie einigen tahitianischen Männern und Frauen auf Pitcairn. Auf den Karten war die Insel falsch eingetragen, so dass die Insel, die die Meuterer zufällig entdeckten, ein ideales Versteck bot. Erst 1808 wurde Pitcairn von einem US-amerikanischen Schiff wieder entdeckt und wurde durch zahlreiche »Bounty«-Filme berühmt.

Noch 1936 hatte Pitcairn 200 Einwohner, heute sind es 48. Die Umgangssprache ist eine Mischung aus Seemannsenglisch und Polynesisch, die Bewohner gehören mehrheitlich der Adventisten-Kirche an. Sie stellen Schnitzereien her, die sie den Passagieren von Kreuzfahrtschiffen verkaufen, weitere Einnahmequellen sind der Verkauf von Briefmarken und der Internetländerkennung »pn«.

Das Empire beansprucht Pitcairn seit 1838, doch viel zu sehen bekamen die Insulaner davon nicht. Vorige Woche aber zeigte sich Großbritannien als Staatsmacht und verurteilte in einem spektakulären Prozess vier Pitcairner zu mehrjährigen Haftstrafen und zwei weitere zu gemeinnütziger Arbeit. Für den ersten Prozess auf Pitcairn war eigens ein Gerichtsgebäude errichtet und neuseeländische Richter waren vereidigt worden.

Die Anklage lautete auf 50 Fälle von sexuellem Missbrauch Minderjähriger. Manche der Vergehen liegen 40 Jahre zurück. Die Anklägerin Christine Gordon sagte: »Junge Mädchen waren für die Männer verfügbar, wann immer diese es wollten.« Den Prozess ausgelöst hatte eine britische Polizistin, die 1999 bei einem Besuch von den sexuellen Umgangsformen auf der Insel erfahren hatte.

Keine der acht Belastungszeuginnen lebt noch auf Pitcairn, ihre Aussagen wurden per Videoschaltung aus Auchkland eingeholt. Ein neuseeländischer Polizist, der die Frauen betreut hatte, erklärte nach der Urteilsverkündigung im Fernsehsender TVNZ: »Es war, als sei eine lebenslange emotionale Last von ihnen genommen worden.« Einige der auf Pitcairn lebenden Frauen hatten die Männer hingegen verteidigt. »Sex war für uns wie Essen«, sagte eine. Sie habe mit zwölf Jahren Sex gehabt, freiwillig und ungezwungen. Auch die Verurteilten hatten erklärt, dass Sex mit Minderjährigen zur Tradition gehöre.

Vorerst bleiben sie auf freiem Fuß. Ebenso wie die Pitcairner, die im Frühjahr beim UN-Komitee zur Entkolonialisierung vorstellig wurden, bezweifelt die Verteidigung die britische Rechtshoheit und hat Rechtsmittel eingelegt. Mit der Meuterei und dem Abbrennen der »Bounty« hätten die Meuterer alle Ansprüche auf die britische Staatsbürgerschaft aufgegeben und eine eigene Nation gegründet. Und, so ließe sich hinzufügen, in ihrem isolierten Refugium haben sie ein Regiment errichtet, das der Tyrannei auf der »Bounty« nicht nachstand, außer dass die Opfer die eigenen Töchter waren. Vielleicht kann man nur von der Südsee träumen, wenn man ihr fernbleibt.