Souverän und unpolitisch

Das EU-Parlament ist stolz auf den erfolgreichen Widerstand gegen Barrosos Team. Seine politische Relevanz muss es jetzt im Tagesgeschäft beweisen. von korbinian frenzel, brüssel

So viel Europa war selten. Erst rückte die Türkei-Vorentscheidung der Kommission Brüssel ins Scheinwerferlicht, jetzt beschert das Tauziehen um die Kommissare und das »Nein« des EU-Parlaments der EU zahlreiche Aufmacher-Geschichten in Tagespresse und Fernsehen. Die europäischen Wochen gehen also weiter. Doch das Interesse gerade für das Parlament, die einzig direkt gewählte Institution im EU-Gefüge, wird spätestens dann vorüber sein, wenn der designierte Kommissionspräsident José Manuel Barroso im November oder Dezember mit einigen Änderungen sein Kollegium durchgebracht hat. »Genieße die Aufmerksamkeit, in den nächsten vier Jahren fragt wieder keiner, was wir hier überhaupt machen«, riet ein alt gedienter Parlamentarier einem frisch gewählten Kollegen.

Vielen ist bereits jetzt klar: Der neue Personalvorschlag wird kaum besser sein als der alte. Sozialisten und Liberale werden sich ein zweites Mal nicht ihrer »Verantwortung für Europa« entziehen können und durchwinken, was auch kommen mag. Buttiglione ist der Preis, den Barroso zu zahlen hat, um sein wenig überzeugendes restliches Team zu retten. Ob der umstrittene Energie-Kommissar Kovacs, die Wirtschaftsfrau Neelie Kroes, die Landwirtin Mariann Fischer Boel oder etwa die der Korruption in ihrem Herkunftsland beschuldigte Lettin Ingrida Udre ausgewechselt werden, ist fraglich.

Immerhin: Die Abgeordneten haben nicht nur sich selbst überrascht, sondern auch die Kenner der EU-Szene, sah doch vor wenigen Wochen noch alles nach dem üblichen Deal aus. »Die werden durchgewunken, egal ob sie inkompetent sind, persönlich befangen oder von Skandalen zu Hause verfolgt werden«, so die Einschätzung einer deutschen Korrespondentin zu Beginn der Anhörungen im Parlament Anfang Oktober. Nur zwei Tage später trat Rocco Buttiglione im Justizausschuss auf und brachte mit seinen radikalen katholischen Thesen den Stein ins Rollen. Mit einer knappen Mehrheit sprachen ihm Sozialisten, Liberale und Grüne seine Befähigung ab, ausgerechnet das Ressort zu übernehmen, in dem es um die bürgerlichen Rechte geht.

Doch auch nach dem Negativ-Votum gegen den Berlusconi-Mann und später gegen den ungarischen Sozialisten Kovacs – eine Art Revanche der Konservativen – schien eine Ablehnung der gesamten Kommission unwahrscheinlich. Zu oft hatte man das Parlament im letzten Moment einknicken sehen – etwa 1999, als es einen Misstrauensantrag gegen die von Korruption geplagte Santer-Kommission ablehnte. Der Rücktritt kam damals trotzdem, jedoch nicht weil das Parlament es wollte, sondern weil Kommissionschef Jacques Santer selbst sein Amt niederlegte. Auch zuletzt beim Deal zwischen Konservativen und Sozialisten, auf Grund dessen Barroso im Sommer eine Mehrheit für den Job als Kommissionspräsident fand, gab das Parlament kein gutes Bild ab.

Insofern war es eine der wenigen souveränen Stunden des Europäischen Parlaments, die das Strasbourger Hémicycle am Mittwoch vergangener Woche erlebte. Aus dem üblichen Schaulaufen haben die Parlamentarier eine politische Entscheidung gemacht. Denn es waren tatsächlich die politischen Überzeugungen (mindestens) eines Kommissars, die auf Ablehnung bei einer Mehrheit der Abgeordneten stießen. Diesmal gab es eine politische Konfliktlinie, die sich quer durchs Parlament zog und eine linksliberale Mehrheit ergab – wohlgemerkt ergänzt durch die Unterstützung von rechten Europa-Gegnern und Nationalisten.

In dem komplizierten Geflecht der Personalfindung in der EU war dieses weitere Kriterium eines zu viel. Dass sich eine Debatte an den politischen Überzeugungen eines Kommissars entzünden würde, damit hatte kaum jemand gerechnet. Vor allem jene nicht, die zu der reichlich vorhandenen EU-Spezies gehören, die das Prinzip der package deals, des bürokratischen Interessenausgleichs, mit der Muttermilch aufgesogen haben. »Wir haben in der EU viele Konfliktlinien, zwischen den Mitgliedsstaaten, zwischen Rat, Kommission und den anderen Institutionen«, erläutert ein EU-Beamter aus der Generaldirektion Margot Wallströms, der designierten Kommunikationskommissarin. Dabei gehe es um Interessen und Einfluss, und um Detailwissen. »Politik mit großer Rhetorik, mit großen Überzeugungen ist im Tagesgeschäft der EU ein Fremdkörper.«

Mehr als ein mildes Lächeln konnten sich auch die in der letzten Woche versammelten Lobbyisten nicht abringen angesichts der Vorgänge um die Kommission. Für viele von ihnen blieb wegen der zahlreichen Sitzungen, dem Hin und Her um Mehrheiten und Enthaltungen der Ausflug ins Elsass weniger erfolgreich als erwartet. Denn für Gespräche über Veränderungen an diesem oder jenem Paragraphen in der XY-Richtlinie blieb diesmal weniger Zeit – und auch das Interesse daran schien geringer. Nicht wenige Europaparlamentarier wirkten nach ihrem großen Mittwoch geradezu euphorisch, angesichts der neu gewonnenen Souveränität des Parlaments.

Doch es muss sich erst zeigen, ob das Europäische Parlament in der Lage ist, wirklich politisch zu handeln und sich damit ein Stück weit der Logik des EU-Systems zu entziehen. Buttiglione hat nur deshalb eine Mehrheit gegen sich zusammengeschweißt, weil sich der Konflikt auf diese Weise personalisierte und mit hohem Symbolgehalt ausgefochten werden konnte. Auch wenn es bereits zuvor viele gute politische Gründe gab, die Kommission abzulehnen – eine Debatte und schließlich eine Mehrheit dafür hätte es ohne den einen schwulenfeindlichen Satz Buttigliones nicht gegeben.

»Wir haben zwei Probleme: ein Problem der Politikinhalte und ein Problem der Methoden in der EU«, sagt der niederländische Sozialist Eric Meijer. Das Parlament müsse sich der Logik der Entpolitisierung entziehen, mit der die Kommission und der Rat uns beispielsweise die Liberalisierung als quasi naturgegebenen Prozess verkauften. »Wir müssen im Parlament klar benennen, was wir grundsätzlich wollen und was nicht«, betont Meijer.

Während die politischen Köpfe unter den Parlamentariern nun Blut geleckt haben angesichts der offenkundig gewordenen Möglichkeit, Mehrheiten zu organisieren und damit einen politischen Willen auszudrücken, sieht es angesichts der Zusammensetzung des EU-Parlamentes bei den Politikinhalten unverändert düster aus. Weder Asyl- und Grenzpolitik noch die Ausdehnung des Marktprinzips auf weitere gesellschaftliche Bereiche – um nur zwei Beispiele zu nennen – stoßen auf den Widerstand relevanter Gruppen. Wenn etwa der schwedische Grüne Carl Schlyter die Militarisierung der EU durch die neue Verfassung kritisiert, stößt er dabei schon bei seinem eigenen Fraktionsvorsitzenden Daniel Cohn-Bendit auf Gelächter.

Wie weit das Parlament in der europäischen Politik von der Wichtigkeit entfernt ist, die es am vergangenen Mittwoch in der Stunde seines Triumphes verspürt haben mag, zeigte sich ganz banal zu Beginn letzter Woche. Während die Schulzens und Cohn-Bendits eifrig damit beschäftigt waren, Mehrheiten zu organisieren, beschlossen die EU-Innenminister in Luxemburg, dass alle Pässe in der EU künftig Fingerabdrücke und digitalisierte Fotos enthalten werden. Die Entscheidung fiel, während der zuständige EU-Ausschuss noch über eine Stellungnahme zu dem Vorhaben beriet.