Du sollst nicht spalten

Egal ob es um Hartz IV geht oder um Arbeitskämpfe in den Betrieben: In den entscheidenden Momenten zögert die Linke. Eine Beobachtung von felix klopotek

Auch wenn es in den vergangenen Wochen spannend wurde, der Vorsprung von George W. Bush auf John Kerry doch noch abgeschmolzen ist und am Ende vielleicht der Demokrat Präsident der USA wird, dürfte die Linke in den USA über die Strategie der Demokraten den Kopf geschüttelt haben. Während des Spätsommers, als Bush Kerry abzuhängen schien, konnte man Interviews mit stark irritierten amerikanischen Kritikern Bushs lesen. Warum ging Kerry nicht in die Offensive und warb um die Opfer der republikanischen Politik?

Der Unterschied zwischen einer US-amerikanischen Präsidentschaftswahl und einem Arbeitskampf in Bochum oder einer Anti-Hartz-Demo in Leipzig mag schwindelerregend sein, strukturell gibt es aber eine bemerkenswerte Übereinstimmung. Jetzt, da die unsoziale Politik der Regierung offenbar geworden ist und die Gewerkschaften, bis dato eng mit der Sozialdemokratie verbandelt, sozusagen aus der Regierung geschmissen wurden, könnte die Linke doch aufatmen: Endlich raus aus der Umklammerung! Untergehen werden die Gewerkschaften sowieso, warum also nicht die Chance nutzen und sich von alten Lebenslügen trennen?

Doch wo bleibt der Mut der Verzweiflung? So zäh, wie sich Kerry an den Vorgaben der Republikaner abgearbeitet hat, so eifrig haben im Sommer die, sagen wir: sichtbaren Linken, etwa viele Gewerkschafter oder Attac, in Deutschland ihre klassische Rolle als Krisenmanager der rot-grünen Regierung gespielt. Man kann die Ereignisse auf eine Frage zuspitzen: Wieso hat die Linke in Situationen, in denen die Macht, wie es so schön heißt, auf der Straße lag, so selten zugegriffen? Man wird für jedes dieser Ereignisse eine historisch bedingte Antwort finden. Eine allgemeine Antwort aber könnte so lauten: Sie wollte die Gesellschaft, »das Volk«, nicht spalten.

Selten wird von der Gegenseite das Wort »Spaltung« offen ausgesprochen. Immer aber ist es mit gemeint, wenn die Aktionen der linken Gegenseite aufwieglerisch genannt werden, wenn etwa der Vorwurf des Populismus aufkommt und die Polemik, man würde unhaltbare Versprechungen machen und Zwietracht säen, wo es doch darauf ankomme, dass gerade jetzt, »in dieser schwierigen Zeit«, alle an einem Strang zögen. Das Land, die Bevölkerung, in politischer Diktion: das Volk spalten – das ist auch der Horror der Linken. Das riecht nach Bürgerkrieg, nach Putschismus, Revolutionsfanatismus und Guillotine.

Das vielleicht traurigste Beispiel für die linke Angst vor der Spaltung ist die italienische KP. Zunächst war sie es, die von der italienischen Nachkriegsgesellschaft ausgeschlossen werden sollte. Am 1. Juli 1949 exkommunizierte Papst Pius XII alle Kommunisten. »Gott sieht dich in der Wahlkabine, Stalin sieht dich nicht!«, so lautete der Wahlspruch der katholischen Kirche. Dass die Kommunistische Partei Italiens (PCI) Mitte der siebziger Jahre ein Drittel der Wählerstimmen erhielt, in zahlreichen Regionen und Großstädten des Landes regierte und mit den Sozialisten ohne Probleme eine parlamentarische Mehrheit hätte aufstellen können, hatte viel mit ihrer Verankerung in der Gesellschaft zu tun. Die Kommunisten waren ein Garant gegen einen Putsch von rechts, gegen Korruption und für sozialpolitische Maßnahmen in dem sich spät industrialisierenden Land.

Der Erfolg der italienischen Kommunisten führte zu einem paradoxen Ergebnis: zu ihrer Handlungsunfähigkeit. Je näher die Macht rückte, desto klarer wurde, dass die Rechte die »chilenische Karte« ausspielen und den Vorwurf des geschürten Klassenhasses und der Spaltung erheben würde. Je angepasster sich die Genossen um Enrico Berlinguer gaben, desto stärker gerieten sie unter Beobachtung, ob sie nicht doch den linken Terror nährten. Den Gegenbeweis blieben die Kommunisten nicht schuldig und stellten sich gegen die damalige Bewegung der wilden Streiks und der autonomen Reproduktionskämpfe.

Wieso greift der Vorwurf der Spaltung überhaupt? Das dürfte er eigentlich nicht. »Bürgerliche Kritik am Klassenkampf ist eine logische Unmöglichkeit«, schrieb der Soziologe Max Horkheimer. Als Berlinguer 1984 starb, meinte Diedrich Diederichsen in einem Nachruf: »Der erste unkorrupte Italiener seit Mussolini.« Damit hatte er den Sachverhalt benannt. Die Kommunisten teilten mit ihren Gegnern den positiven Bezug auf das Volk und konkurrierten darum, wer der anständigere Politiker sei – der Faschist, der Katholik oder eben der Kommunist.

Selbstverständlich haben Kommunisten einen anderen Begriff vom Volk als Faschisten, nämlich einen plebejischen und keinen rassistischen. Aber wer Volk sagt, muss auch Staat und Nation sagen. Der wichtigste Inhalt des Volks-Begriffes ist: regiert zu werden. Wer Volk sagt, hat die sozialen Kämpfe in einen nationalen Bezugsrahmen eingeordnet. Wer an diesem Bezugsrahmen rüttelt, der beschwört, davon sind die Demokraten überzeugt, das Ärgste: Populismus, Klassenhass oder Bürgerkrieg.

Das sind große Worte für die provinziellen, miesen und versteinerten Verhältnisse in Deutschland. Aber es lohnt, auf diese Muster zu achten, denn sie zeichnen sich auch hierzulande ab. Bei den Anti-Hartz-Demonstrationen haben die Demonstranten den Spieß umgedreht und der Regierung die Spaltung vorgeworfen. Der Spruch »Wir sind das Volk!« meint auch: Spaltet uns nicht ab, schließt uns nicht aus, holt uns wieder ins Boot. Lieber ausgebeutet werden, als gar nichts mehr sein. Das ist rationales Handeln unter kapitalistischen Bedingungen. Die Leute sind nicht dumm, sondern stellen Überlegungen an, wie sie wohl am besten durchkommen. Zurzeit wird ihnen die Rechnung präsentiert: Wählt bei der Bundestagswahl wieder die SPD, denn mit der Union wird alles noch schlimmer!

Die IG Metall etwa hat sich beim Opel-Streik nicht als »Verräterin« erwiesen. Ihre Taktik zur Beendigung des Streiks hatte zum Zweck, sich wieder als starke Verhandlungspartnerin ins Spiel zu bringen. Auch das folgt einer bestimmten Rationalität, der des institutionalisierten Klassenkampfes: Stellt den Kampf für eure Interessen ein, und wir holen das Beste für euch raus!

Diese Rationalität fußt auf dem Widerspruch, dass das sozial Unvereinbare sich jeweils als Teil eines großen gesellschaftlichen Konsenses ausdrückt. Bürgerliche Demokratie heißt: Mit jeder Machtdemonstration unterschreiben die Leute eine Unterlassungserklärung. Sie demonstrieren mit dem Spruch »Wir sind das Volk!« und bleiben dann doch wieder zuhause. An diesem Widerspruch hätte radikale Kritik anzusetzen.

Der soziale Antagonismus bleibt gebannt in ein System, das seine Überwindung unmöglich macht und das noch nicht einmal den sozialen Status quo garantieren kann. Die Lohnabhängigen kommen zu ihrem Recht, das Recht zu demonstrieren und zu streiken, und werden dabei um den Zweck – sagen wir ganz bescheiden: ein sorgenfreies Leben ohne Gewalt – gebracht. Solange sie diesen Widerspruch nicht reflektieren, werden sie auch weiterhin das Volk bleiben wollen und darauf hoffen, dass das Management es am Ende gut mit ihnen meint.