Der dritte Mann

Seit 174 Jahren bestimmen zwei Parteien die Politik Uruguays. Nach den Wahlen am Sonntag dürfte erstmals die Linke die Regierung übernehmen. von birgit marzinka

D ie Abschlusskundgebung war beeindruckend: 600 000 Menschen, also etwa ein Viertel der Bevölkerung des Landes, versammelten sich am 27. Oktober, um die Frente Amplio und ihren Kandidaten Tabaré Vázquez zu unterstützen. Nach der Auszählung der Hälfte der Stimmen lag der linke Präsidentschaftskandidat bei rund 50 Prozent, wobei die meisten der noch nicht ausgezählten Stimmen in Vázquez’ Hochburg Montevideo lagen. Auch in den beiden Abgeordnetenkammern sieht es nach einem Sieg des linken Bündnisses Encuentro Progresista – Frente Amplio – Nueva Mayoría (Progressive Vereinigung – Breites Bündnis – Neue Mehrheit) aus. Vázquez erklärte sich bereits am Sonntagabend zum Sieger: »Wir werden am Morgen mit der Arbeit am politischen Umschwung beginnen, denn wir haben keine Zeit zu verlieren.« Die nur von den Miltärs zwischenzeitig unterbrochene Herrschaft der Colorado- und die Blanco-Partei, die sich seit 174 Jahren an der Regierung abgewechselt haben, scheint vorläufig beendet.

Für ihren historischen Sieg hatte die uruguayische Linke sogar im Ausland mobilisiert. Mitte Oktober zogen Politiker und Anhänger unter dem Motto »Für einen Sieg des Volkes« durch die Straßen von Buenos Aires. Etwa 50 000 Uruguayer dürften zum Wählen nach Montevideo gefahren sein. Der argentinische Präsident Néstor Kirchner unterstützt Vázquez, ebenso Luis Inacio »Lula« da Silva, der Präsident des Nachbarlandes Brasilien. Beide hoffen auf einen neuen Verbündeten.

Wie Argentinien steckt auch Uruguay seit Jahren in einer Wirtschaftskrise. Der streng neoliberale Kurs der letzten drei Präsidenten hat sie noch verstärkt. Die Auslandsschulden sind mit 12 Milliarden US-Dollar mittlerweile höher als das Bruttoinlandsprodukt. Jährlich sehen sich 20 000 der 3,6 Millionen Einwohner zur Arbeitsemigration gezwungen. Es wandern heute weit mehr Menschen aus, als während der Militärdiktatur (1973 bis 1985) ins Exil gingen. Die meisten der über 450 000 Emigranten verfügen über eine höhere Schulbildung und sind zwischen 20 und 40 Jahren alt; inzwischen ist Uruguay das Land mit der ältesten Bevölkerung Lateinamerikas. Dennoch liegt die Arbeitslosenrate selbst nach offiziellen Angaben bei 17 Prozent. Mehr als die Hälfte der Kinder wächst unter der Armutsgrenze auf, die Unterernährung von Kindern ist ein großes Problem geworden.

Wie in Argentinien ist die Industrieproduktion gesunken. Entweder haben die Besitzer die Fabriken geschlossen, oder die Betriebe arbeiten weit unter ihren Kapazitäten. Auch die Landbevölkerung leidet unter der schlechten wirtschaftlichen Situation. In den letzten 30 Jahren schlossen rund 20 000 landwirtschaftliche Betriebe. Eine Landreform ist bislang nicht durchgeführt worden, und Latifundien dominieren den Landbesitz. Viele haben diese Situation satt, sie wollen eine politische Veränderung und setzen große Hoffnungen auf das linke Bündnis.

Die Frente Amplio vereint 15 linke Gruppierungen mit zum Teil militanter Geschichte. Insbesondere der MPP (Movimiento para la Participación Popular), der sich aus dem MLN (Movimiento Liberación Nacional) und kleineren jüngeren Gruppierungen zusammensetzt, ist in der Bevölkerung bekannt. Als Mitte der sechziger Jahre die damalige Regierung versuchte, die Wirtschaft zu liberalisieren, protestierten Studenten und Arbeiter gemeinsam gegen diese Politik. Aus dieser Bewegung entwickelte sich der MLN, der sich bemühte, die verschiedenen linken Gruppierungen unter ein Dach zu bringen. Im Februar 1971 wurde vor allem auf ihre Initiative die Frente Amplio gegründet, noch im gleichen Jahr stellte das linke Bündnis einen Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen, doch ohne Erfolg. Eng verbunden war der MLN mit den Tupamaros, der Stadtguerilla, die seit Mitte der sechziger Jahre vor allem in Montevideo bewaffnete und nicht bewaffnete Aktionen durchführte und auch nach dem Militärputsch ihren Kampf fortführte.

Die Blanco- und die Colorado-Partei hatten versucht, die Beteiligung ehemaliger Tupamaros an der Frente Amplio auszunutzten und die Angst in der Bevölkerung zu schüren. Sie behaupteten, die Frente Amplio suche keine demokratischen Wege. Die Repression der Militärdiktatur sitzt der Bevölkerung noch tief in den Knochen, und viele haben Angst, ein Wahlsieg »der Kommunisten« könne eine erneute Militärdiktatur provozieren. Doch bereits 1989, vier Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, gewann die Frente Amplio mit Tabaré Vázquez an der Spitze die Wahlen in Montevideo. Seitdem regiert das linke Bündnis die Hauptstadt und konnte auch im Rest des Landes mehr Anhänger gewinnen.

Vázquez gilt als guter Redner, populärer Politiker und Fußballanhänger. Seine Herkunft aus einem armen Stadtteil erleichtert es ihm, die unteren Bevölkerungsschichten anzusprechen, er arbeitete aber auch als Arzt in den USA und in Paris. Als Präsident will er »die soziale Krisensituation entschärfen« und verspricht, »mit den öffentlichen Geldern verantwortlich umzugehen und sie umzuverteilen«. In Abkehr von der bisherigen Politik der Entstaatlichung unterstützte Vázquez das Referendum gegen die Wasserprivatisierung, das ebenfalls am Sonntag stattfand. Sich auf eine Regierung zu stützen, deren Basis ein Bündnis verschiedener Organisationen ist, stellt nach seiner Ansicht kein Problem dar.

Ein radikales Programm ist das nicht, doch vor allem auf lateinamerikanischer Ebene könnte ein Wahlsieg der Frente Amplio das Kräfteverhältnis beeinflussen. Vázquez unterstützt das Projekt des gemeinsamen südamerikanischen Marktes Mercosur. Der Wirtschaftsverbund, dem Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay angehören, dürfte durch einen Präsidenten, der Kirchner und Lula politisch nahe steht, gestärkt werden, auch wenn Uruguay im Vergleich zu den großen Nachbarländern eine unbedeutende ökonomische Rolle spielt. Der Mercosur gilt als Konkurrenzprojekt zu der von den USA propagierten gesamtamerikanischen Freihandelszone Alca. Die US-Regierung befürchtet auch, dass Vázquez die unter dem Colorado-Präsidenten Jorge Batlle auf Eis gelegten Beziehungen zu Kuba wieder ausbauen könnte.

In Uruguay werden radikale Veränderungen nicht erwartet. Ein Sieg der Frente Amplio würde jedoch das fest gefügte politische System aufbrechen und das Machtmonopol der Blanco- und der Colorado-Partei beenden. Für viele Uruguayer wäre das der Beginn einer neue Etappe ihrer Geschichte. »Es wird eine bessere Verteilung geben, und das Land wird gut verwaltet werden«, hofft der Künstler und ehemalige MLN-Aktivist Nino Denegri.