Schlimm, schlimmer

Elfriede Jelinek erhält den Literaturnobelpreis.

Seinen Literaturpreis verleiht das Nobelpreiskomitee der schwedischen Akademie nicht selten an dienstbare Kulturlakaien, so wie man etwa Orden an verdiente Offiziere verleiht, bevor sie in Ehren aus der Armee ausgemustert werden. Einen Literaturpreis kriegt also aller Erfahrung nach, wer brav gedient hat, mit der Gesellschaft seinen Frieden gemacht hat oder wer nicht schreiben kann. Elfriede Jelinek ist entweder die große Ausnahme von dieser Regel, oder sie muss mittlerweile jenen zugeschlagen werden, die ihren Frieden gemacht haben.

Ihrer geradezu rührenden Reaktion auf die Bekanntgabe der Entscheidung ist zu entnehmen, dass sie beabsichtigt, die Ausnahme zu bleiben, die sie stets war. »Ich verspüre eigentlich mehr Verzweiflung als Freude«, lautete ihr erster wunderschöner Kommentar, bevor sie etwas sagte, was einen schließlich endgültig beruhigte: »Ich wünsche mir nicht, dass der Preis für Österreich eine Bedeutung hat. Ich bin zu dieser Regierung auf völliger Distanz.« Zur Preisverleihung werde sie nicht erscheinen, denn da sitzt der Feind: »Ich kann mich im Moment Menschen nicht aussetzen.« Sie scheint die alte geblieben zu sein, eine Künstlerin, die das unausgesetzte Nein präferiert.

Das nationalistische Geschleime des österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer (SPÖ), der dumm genug war zu behaupten, dass dieser Preis »den hohen Stellenwert der österreichischen Literatur« zeige und dass »die österreichische Literatur insgesamt geehrt« werde, muss Jelinek, nach allem, was man ihrem Werk entnehmen kann, körperliche Schmerzen bereiten.

Einst ist Elfriede Jelinek als Marxistin und Feministin angetreten, um ihren Lesern und Leserinnen zu erklären, wie der Kapitalismus, die Medienverdummungsmaschinerie und der noch immer mit dem Faschismus liebäugelnde Kleinbürger funktionieren, und das ist ihr gelungen wie niemand anderem. Ihr Verdienst als Schriftstellerin bleibt es, in den siebziger und achtziger Jahren eine sowohl politisch wie formal radikale Literatur verfasst zu haben, die ihresgleichen sucht, sprachliche Mahnmale gegen das Einverstandensein, Gesellschaftsanalysen von äußerster Negativität, deren sinistre Komik und harsche Kapitalismuskritik mit sprachavantgardistischer Finesse und intertextuellen Verfahrensweisen daherkamen.

Mit dem seinerzeit herrschenden literarischen Mainstream, der überwiegend aus dröger SPD-Ortsvereinsliteratur oder aus privatistischem Empfindsamkeits- und Selbsterfahrungsgeschreibe bestand, hatten Jelineks Texte so viel zu tun wie ein Maschinengewehr mit einem Plüschkissen. Aber begriffen haben das die wenigsten, verkaufen ließen sich ihre Romane, die kaum einer gelesen hat, nur unter dem damals modischen Etikett »Frauenliteratur«.

Jelineks Romane aber sind explizit keine Literatur einer »schreibenden Frau«, bei der das vermeintlich »Verletzliche«, »Sensible« und der »weibliche Blick« stets heimlich mitgedacht wurden, sondern schwarze Panoramen einer bis ins Letzte und Privateste von Marktmechanismen und faschistischem Gedankengut durchdrungenenen, gänzlich warenförmig gewordenen Gesellschaft, »mikrosoziologische Studien menschlicher Zerstörungen«, wie sie der Wiener Philosophieprofessor Rudolf Burger nennt.

Jelineks teils niederträchtige, teils kaputte Figuren sind einzigartig in der modernen Literatur, weil sie so wahr sind. Es sind enthumanisierte Typen ohne reflexionsfähiges Bewusstsein, verdinglichte Körper, deren Reden und Handeln nichts innewohnt außer der blanken Ideologie, mit der man sie vollgestopft hat, sie sind nichts als gesellschaftliche Träger falschen Bewusstseins, gleichermaßen »Opfer und Exekutoren gesellschaftlicher Verhältnisse« (Burger), die nur ihre eigene Deformation, geistige Verkümmerung und gesellschaftliche Konditionierung offenbaren, wenn sie sprechen.

Jelineks ideologiekritisches Vollprogramm aus Sprach-, Medien-, Patriarchats- und Faschismuskritik, wie es beispielsweise in ihrem Roman »Lust« durchexerziert wird, kennt keine wie auch immer geartete Versöhnung mit dem Bestehenden. Die Familie ist die private Hölle, in der sich der ökonomische Ausbeutungszusammenhang fortsetzt. Die Frau ist wahlweise Arbeitskraft, Sexualbefriedigungsinstrument, Muttertier, Arbeitsgerät, Statussymbol, Gegenstand oder Ware. Sexualität ist Sport, Arbeit oder Krieg. Die Natur ist tot, hässlich, schmutzig, ein rein funktional betrachteter, instrumentalisierter Gebrauchsgegenstand. Im Kapitalismus ist der Mensch eine Ware, ein Warenbesitzer, ein Warenproduzent und eine Arbeitskraft, und sonst nichts.

Glaube, Liebe, Geborgenheit und Hoffnung sind stinkende Leichname im Jelinekschen Kosmos, der an nichts mehr erinnert als an die Realität. Die Zukunft kann schon mal einpacken und nach Hause gehen, denn hier gibt es nichts mehr für sie zu tun.

Zu einem grandiosen Missverständnis musste es notwendigerweise kommen, als der Roman 1989 erschien, der, begleitet vom schamlosen Reklamegeschrei ihres Verlages, als »weiblicher Porno« vermarktet wurde. Prompt wurde das Diktum dankbar von der hechelnden Presse aufgegriffen, was zur Folge hatte, dass »Lust«, ohne auch nur ansatzweise dafür prädestiniert zu sein, sich innerhalb kürzester Zeit in den Bestsellerlisten wiederfand.

Im Roman »Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft« (1972) findet man auch einen Satz, der so wahr ist, dass man ihn bis heute fortwährend überall zu jeder Gelegenheit zitieren kann, denn er stimmt immer. Der Satz ist das Vermächtnis ihres marxistischen Frühwerks, und manchmal wünscht man sich heute, dass sie sich wieder an ihn erinnern möge. Er lautet: »In Wirklichkeit ist es gar nicht so schlimm, in Wirklichkeit ist es schlimmer.«

Natürlich wird die große Künstlerin den Preis annehmen, wie sie schon 1998 den Büchnerpreis angenommen hat und wie so viele andere deutschsprachige Schriftsteller in der Vergangenheit Preise angenommen haben. Diese Leute heißen beispielsweise Günter Grass oder Martin Walser und haben außer Unmengen von schlechter Literatur nichts vorzuweisen als ihre Altersmeise und ihre unappetitlichen politischen Verlautbarungen.

Am Buchmessenstand des Rowohlt-Verlages soll, als nach Verkündung der Nobelpreisträgerin die Pressemeute den Stand umlagerte, nur mit Mühe eines ihrer Bücher aufzutreiben gewesen sein. Bis letzte Woche war Jelinek eine etwas verschrobene Kommunistin, deren negativistisches Werk nur schwer verkäuflich war. Die Schaufenster der Buchhandlungen aber werden nun zwei Wochen volldekoriert sein mit den wiederaufgelegten Büchern der großen Nobelpreisträgerin, die sich jetzt kurze Zeit verkaufen werden wie geschnitten Brot, bevor sie vom verständnislosen, entmutigten Leser entweder nach zwei Seiten Lektüre wieder weggelegt werden oder ungelesen als Dauerdekoration im Buchregal verstauben. Denn Jelinek zu lesen ist kein unbeschwertes Mittagspausenvergnügen, sondern eine Reise ohne Wiederkehr in den Abgrund des menschlichen Daseins unter den Bedingungen des Spätkapitalismus. Aber in Wirklichkeit ist es gar nicht so schlimm. Diese Literatur ist ja sowieso nur erdichtet und hat mit der Realität nichts zu tun, und schließlich »ist das meiste geschriebene erdichtet bis auf eure akten und kontoauszüge. die sind wahr.«