Demokratie in der Tinte

Anschläge der Taliban blieben bei den ersten Präsidentschaftswahlen aus. Stattdessen gab es diverse Unregelmäßigkeiten und scharfe Proteste der Gegenkandidaten. von martin schwarz

Für George W. Bush war es wieder einmal eine »wunderbare Sache«. Dass die Afghanen nach einem Vierteljahrhundert Bürgerkrieg, sowjetischer Besetzung, abermaligem Bürgerkrieg und anschließender kollektiver Züchtigung durch die Taliban endlich wählen gehen durften, sah der US-Präsident als Bestätigung dafür, dass der Krieg im Jahr 2001 richtig war. Besonders erfreut sei er darüber, dass eine 19jährige Afghanin, die wie mindestens 1,5 Millionen afghanische Kriegsflüchtlinge im Nachbarland Pakistan lebt, dort als erste ihre Stimme abgegeben habe. Mokadasa Sidiki habe wählen dürfen, weil »die Vereinigten Staaten von Amerika glauben, dass die Freiheit das Geschenk des allmächtigen Gottes an jeden Mann und jede Frau auf dieser Welt ist«, sagte Bush am Samstag während der zweiten Fernsehdebatte mit seinem Herausforderer John Kerry in St. Louis.

Das Geschenk Gottes an jeden Afghanen und jede Afghanin aber hatte seine Tücken. Wählen nämlich durften alle Afghanen. Dennoch stand Hamid Karsai als Sieger schon fest, bevor alle seine verbliebenen 15 Gegenkandidaten wegen vermuteter und teilweise auch tatsächlicher Unregelmäßigkeiten am Wahltag beschlossen, die Wahlen zu boykottieren und das Ergebnis nicht anzuerkennen. Und zwar wegen der Tinte.

Jener Tinte nämlich, die von den Wahlhelfern der Vereinten Nationen an die Wahllokale ausgegeben wurde und die verhindern sollte, dass Afghanen mehrmals ihre Stimme abgeben. Jeder Wähler wurde nach Stimmabgabe mit der Tinte am Daumen bekleckst, mindestens 48 Stunden sollte sie nicht abwaschbar sein. Doch die Afghanen demonstrierten vor westlichen Fernsehkameras, dass die UN-Tinte ebenso problemlos abwaschbar ist wie der Staub der afghanischen Straßen. Unerfahrene Wahlhelfer, so rechtfertigten sich anschließend die Vereinten Nationen etwas hilflos, hätten die bestandsfeste Tinte mit gewöhnlicher Tinte verwechselt, deshalb sei das Chaos entstanden.

Allerdings macht die recht hohe Fehlerquote bei der Tintenverwendung diese Erklärung eher unglaubwürdig. Bereits vor der Wahl gab es merkwürdige Vorkommnisse: Innerhalb weniger Wochen schoss die Zahl der ausgegebenen Wählerkarten von zwei auf zehn Millionen hoch, während zuvor die Organisatoren monatelang auf den Karten sitzen geblieben waren. In vier Provinzen Afghanistans lag die Zahl der ausgegeben Wahlkarten bei 140 Prozent der dort vermuteten Wähler. Die Vereinten Nationen und die OSZE, die ebenfalls zur Beobachtung vor Ort war, gingen dem Verdacht auf doppelte und dreifache Registrierungen einiger besonders demokratiebegeisterter Afghanen nicht nach. Der Leiter der OSZE-Wahlkommission, Robert Barry, reiste erst eine Woche vor Beginn der Wahlen nach Kabul, für das gesamte Land entsandte die OSZE zudem bloß 40 Wahlbeobachter. Zum Vergleich: Bei den Parlamentswahlen in Kasachstan wurden 400 Wahlbeobachter der OSZE angefordert.

Mittlerweile gehen einige der Organisatoren davon aus, dass die Zahl der ausgegebenen Wahlkarten doppelt so hoch wie jene der tatsächlichen Wähler ist. 200 Millionen US-Dollar hat die Wahl gekostet, durchschnittlich also 20 US-Dollar pro Wahlkarte. Ein hoher Betrag für eine Wahl, die in nichts anderem als Enttäuschung und Chaos endete. Enttäuschung signalisierten jedenfalls auch die von vornherein chancenlosen Gegenkandidaten von Hamid Karsai in einer gemeinsamen Erklärung, die sie am Samstagnachmittag veröffentlichten: »Die heutige Wahl ist keine legitime Wahl. Wir nehmen an der heutigen Wahl nicht teil.«

Zunächst verlangten die Widersacher Karsais eine Wiederholung der Wahl, ließen aber dann von ihrer Forderung ab. Am Sonntag erklärte Abdul Satar Sirat im Namen aller Kandidaten, man fordere lediglich eine unabhängige Untersuchung, die die Vereinten Nationen und die Wahlbehörde auch prompt zusagten. Hamid Karsai bezeichnete den Protest seiner Widersacher als »kein ernstes Thema«. Nur weil »15 Menschen ›Nein‹ sagen, können wir nicht die Stimmen von Millionen verleugnen«, sagte der Präsident auf einer Pressekonferenz in Kabul. Dass es aller Wahrscheinlichkeit nach ein paar Stimmen zu viel waren, spielt für ihn keine Rolle, denn schon vor der Wahl fand Karsai in den Umfragen bei gut 65 Prozent der Wähler Zustimmung.

Zustimmung? Vielleicht nicht ganz das angemessene Wort. Vielmehr hat Karsai gegenüber seinen Konkurrenten den Vorteil, von den Afghanen erkannt zu werden. Ein von der UN erwünschtes Ergebnis. Karsai steht für Kontinuität und Stabilität und er ist anders als einige seiner Gegenkandidaten berechenbar und leicht zu kontrollieren.

Von ihrer Forderung nach einer Annullierung der Wahlen sind die Gegenkandidaten wieder abgerückt. Und selbst wenn sie die Unregelmäßigkeiten als willkommenen Anlass nehmen, ihre zuvor schon absehbare Niederlage mit Manipulation zu erklären, könnte ihr Protest auch langfristig der Legitimität Karsais schaden. »Jede Regierung, die als Ergebnis der heutigen Wahl an die Macht kommt, hat keine Glaubwürdigkeit, keine Legitimität und ist für uns unrechtmäßig«, meinten sie in seltener Eintracht in ihrer ersten Erklärung. Kritik richteten sie auch an Bundeskanzler Gerhard Schröder, der am Montag zu einem Besuch in Kabul eintraf. Der Kandidat Mohammad Mahfuz Nedahi monierte, dass Deutschland schon vor dem für Ende Oktober erwarteten Ergebnis vom Sieg des Amtsinhabers ausgehe. »Deutschland unterstützt zu 100 Prozent die US-Politik«, sagte Nedahi.

Bei allen realpolitischen Zwängen kann nicht übersehen werden, dass Karsai alles andere als eine dringend notwendige Integrationsfigur für die Afghanen ist. Vielmehr hat er mit Warlords und den Stammesfürsten Afghanistans in den letzten beiden Jahren einen brüchigen Frieden geschlossen, ein gentlemen’s agreement, das im Wesentlichen eines besagt: Karsai herrscht in Kabul, sorgt für die Unterstützung des Auslands, jettet durch die Welt und betreibt grandioses Fundraising, an den lokalen Machtverhältnissen aber ändert sich nichts. Immerhin konnte der Präsident so ein Bündnis zwischen den Talibankämpfern und den Warlords verhindern.

Trotz aller Fassade von Staatlichkeit ist Karsai kaum mehr als eine Mischung aus Bürgermeister und Außenminister, stets ist sein Leben bedroht, geschützt wird er von US-amerikanischen Bodyguards. In der komplizierten Stammeshierarchie Afghanistans hat er keinen festen Platz erobert. Und sein Bündnis mit den lokalen Herrschern, das auch zum ruhigen Verlauf der Wahlen beitrug, hat die Stammesstrukturen und die Macht der Warlords noch verfestigt. Auch nach den Wahlen wird Karsai vom Wohlwollen der Warlords abhängig bleiben. Und wenn er nun ohne Gegenkandidaten zum Präsidenten wird, droht das seine Glaubwürdigkeit weiter zu unterminieren – ein denkbar schlechter Start für eine junge Demokratie.

Wenn nun die Vereinten Nationen, die OSZE und nicht zuletzt die Vereinigten Staaten die Wahlen als demokratische Erlösung verkaufen, könnte die bloße Furcht vor der Alternative das Motiv sein. Instabile Verhältnisse in Afghanistan wären nämlich auch für den ebenfalls zur Wahl stehenden US-Präsidenten eine Katastrophe. Was im Irak nicht funktioniert, so der Tenor in Washington, muss eben in Afghanistan klappen.