Schlechte Schwingungen

Dem dänischen Hippieparadies Christiania droht das Ende. Ein Gesetzentwurf der Regierung sieht die »Normalisierung« vor. von ivo bozic
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In Christiania gehen die Uhren langsamer. 1988 beschloss die Vollversammlung des Kopenhagener Freistaates, die marode Brücke über den eigenen See zu erneuern. Als eine Abordnung der Jungle World der Hippie-Kommune auf einer Reise nach Dänemark zehn Jahre später, also 1998, einen Besuch abstattete (Jungle World, 37/98), war die neue Brücke gerade eingeweiht worden. Sid vom Infobüro erklärte damals die über der Gemeinde liegende Lethargie mit dem enormen Haschisch-Konsum: »Wir haben immer tolle Ideen, aber die Umsetzung …«

Mit der Beschaulichkeit ist es jedoch seit einiger Zeit vorbei. Die seit 2001 amtierende rechte Koalitionsregierung um Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen will dem »Freistaat« nach nunmehr 32 Jahren des Bestehens endgültig an den Kragen. Dazu soll dieser Tage eigens ein Gesetz mit dem kryptischen Namen »L 205« verabschiedet werden. Dabei geht es nicht um die Räumung des 90 000 Quadratmeter großen Geländes, sondern um eine »Normalisierung«. Die Folgen wären jedoch vergleichbar.

Christiania befindet sich auf einem ehemaligen Kasernengelände nahe dem Stadtzentrum Kopenhagens. 1971 rief das alternative Magazin Hovedbladet zur Besetzung des malerisch rund um einen See und innerhalb einer aus dem 17. Jahrhundert stammenden Festungsanlage gelegenen parkähnlichen Geländes auf. Die Polizei versuchte anfangs zu räumen. Das Gelände war jedoch zu groß und unübersichtlich, die Zahl der Besetzer zu hoch. Es entstand im Laufe der Zeit ein eigener Stadtteil mit selbst gebauten Hütten und Häusern und über 60 Kneipen, Läden, Werkstätten, Restaurants, Kindergärten und Veranstaltungsräumen. Ein florierender und staatlich tolerierter Handel mit Gras und Dope bot zudem alles, was das Herz begehrte.

Rund 1 000 Aussteiger bilden eine basisdemokratisch organisierte, autofreie Öko-Kommune. Geld gemacht wird aber auch: sowohl mit der inzwischen eingestellten Produktion der berühmten »Pedersen«-Fahrräder als auch mit dem Cannabis-Verkauf, der einen Umsatz von vielen Millionen Euro jährlich haben soll. Außerdem avancierte Christiania zur zweitgrößten Touristenattraktion nach dem Tivoli. 10 000 Besucher halten sich an manchen Tagen im Sommer in Christiania auf.

Als größte Bedrohung für das Projekt galt in den letzten Jahren dessen Etablierung. Einige Residenten bauten sich kleine Paläste mit Seeblick, andere ließen von der Stadtverwaltung eine Ölheizung in ihre Häuser bauen, wieder andere nutzen ihren Wohnsitz in der Hippie-Stadt nur noch als Wochenendhaus im Grünen.

Die Rechtsregierung erhöht jedoch seit einiger Zeit ständig den Druck auf das Projekt. Anfang des Jahres gab es zahlreiche Razzien gegen die Cannabishändler. Doch jedes Mal, wenn die Polizei das Gelände verlassen hatte, wurden die Marktstände in der Pusher Street wieder aufgebaut, und neue Ware wurde angeboten. Im letzten Jahr beschlagnahmte die Polizei insgesamt 865 Tonnen Haschisch. Im Januar wurden die Verkaufsstände von den Händlern selbst abgebaut, als Zeichen des Entgegenkommens. Seitdem galt der offene Drogenhandel in Christiania als beendet – offiziell. Doch im März wurden bei einer Großrazzia erneut 48 Personen wegen Drogengeschäften festgenommen.

Es geht der Regierung jedoch nicht nur um den illegalen Drogenhandel. Ein selbst verwalteter, autonomer Stadtteil, ein quasi rechtsfreier Raum im Zentrum der dänischen Hauptstadt untergräbt die Autorität des Staates. Neben der Repression der Dealer ist Schwerpunkt des Gesetzentwurfs L 205 die »Legalisierung«, also die Kommerzialisierung der Wohnverhältnisse. Die Kneipen in Christiania haben längst eine Ausschankgenehmigung, und die Betriebe zahlen Gewerbesteuer. Doch nun sollen alle wild errichteten Gebäude abgerissen werden, weil sie nicht den Bauverordnungen und Sicherheitsvorschriften entsprechen. Die restlichen Gebäude sollen saniert werden. Der Staat, der noch immer der offizielle Eigentümer des Geländes ist, will die Häuser und Wohnungen anschließend zum Verkauf anbieten. Für die jetzigen Bewohner soll eine Art Vorkaufsrecht gelten.

Gegen diese Pläne regt sich Protest. Am 22. Mai demonstrierten rund 10 000 Menschen gegen das Anti-Christiania-Gesetz. Einer Meinungsumfrage zufolge sind über 60 Prozent der Dänen für den Erhalt Christianias. Sogar 200 Nachbarn, die sich seit Jahren gegen den Drogenhandel, die Lärmbelästigung durch Partys und Konzerte und gegen das Parkplatzproblem rund um Christiania engagieren, sprechen sich – ebenso wie zahlreiche prominente dänische Künstler – für den Erhalt des »Freistaats« aus. Unterstützung erhält Christiania sogar von der Bauarbeitergewerkschaft. Ihr Boss Anders Olesen erklärte, die Mitglieder würden jede Arbeit auf dem Gebiet von Christiania verweigern, wenn keine einvernehmliche Lösung gefunden werde.

Während sich die Christianiter über die Unterstützung aus der Bevölkerung nicht beklagen können, herrscht in der dänischen Linken weniger Einigkeit über das Maß der Solidarität, die Christiania zustehe. Grund für die Skepsis ist die Tatsache, dass sich Christiania an gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen seit Jahren kaum beteiligt. So gab es zum EU-Gipfel in Kopenhagen 2002 zwar einige Veranstaltungen und Workshops in Christiania – u.a. ein großes Zelt, in dem gemeinsam meditiert wurde, um mittels positiver Schwingungen die Führer Europas auf neue Ideen zu bringen –, aus der Bündnisarbeit gegen den Gipfel hielten sich die Christianiter jedoch heraus. Es wurden keine Schlafplätze in Christiania zur Verfügung gestellt und auf Flugblättern teilte man den angereisten Demonstranten mit, dass Christiania im Falle von Auseinandersetzungen mit der Polizei nicht als Rückzugsgebiet zur Verfügung stehe.

Nun, da Christiania selbst mit dem Rücken zur Wand steht, könnte das Hippie-Projekt jedoch jede Unterstützung gebrauchen. Denn aus eigener Kraft wird es sich wohl kaum gegen die drohenden Angriffe wehren können. Anstatt wie in alten Tagen Pflastersteine auszugraben, haben die Christianiter einen Brief an die Regierung geschrieben. Darin kündigen sie einen »Kulturkampf« an. Und er geht so: »Wenn es zur Zerstörung Christianias kommt, wird dieser Kulturterrorismus von einem massiven Kulturkampf gestoppt werden. Nicht mit Schiesspulver und Kugeln, sondern mit Liebe, Gewaltlosigkeit und zivilem Ungehorsam. Aber es ist nicht unser Wunsch, dass es dazu kommt. Wir wünschen einen konstruktiven Dialog!« Man kann sich lebhaft vorstellen, dass die Empfänger dieses Brandbriefes der Kiffer bereits an allen Gliedern zittern.