Hegel macht geil

Haruki Murakami setzt Kafka in den Sand. von maik söhler

Wer die intellektuelle Auseinandersetzung mag, aber von all dem Gewese um die Klassiker, das dabei oft gemacht wird, schnell genervt ist, hat dem japanischen Schriftsteller Haruki Murakami einiges zu verdanken. Der Niedergang des »Literarischen Quartetts« begann mit einem Streit über die Frage, wie erotisch sein Roman »Gefährliche Geliebte« sei. Sigrid Löffler verließ die Runde im Streit, Iris Radisch stieg ein, und nicht lange danach war es mit dem Goethe-Gehuber vor amüsiertem Publikum vorbei.

Das gesellschaftliche Gemurmel nicht gefördert zu haben, ist ein weiteres Verdienst Murakamis. Nur selten gibt er Interviews oder kommentiert das Zeitgeschehen. Seine Übersetzungen der Werke Chandlers, Carvers u.a. ins Japanische haben außerdem zur kulturellen Amerikanisierung einer postfaschistischen Gesellschaft und somit auch zur Marginalisierung von Samuraisagen, Teerosengedichten und Geisharomanen geführt.

Und wer darüber hinaus auch noch die Erzählung als eigene literarische Form schätzt, der konnte in den vergangenen Jahren an Murakami kaum vorbeikommen. Egal ob in der Story »Der Elefant verschwindet« oder in der nun endlich auch als Taschenbuch erhältlichen Liebesgeschichte »Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah«, seine Erzählungen waren gleichzeitig elegant, komisch und kalt.

Das hat sich leider geändert. Nicht so sehr in dem im Herbst erschienenen Erzählband »Nach dem Beben«, wobei aber auch hier schon gelegentlich Körper »in Einklang mit dem elementaren Rhythmus der Welt« stehen und man in Klängen »den heißen Atem, das Beben des Herzens« hört etc. Kurz: »Nach dem Beben« versammelt eine Menge gefühligen Quatsch, den man jedoch ertragen kann, weil die erzählerische Distanz meistens überwiegt und allzu viel religiöse oder anderweitige Sinnsuche mit der ihr eigenen Komik konfrontiert wird.

In Murakamis neuem Roman, »Kafka am Strand«, gelingt diese Balance nicht mehr. Eine schöne, wenn auch klassische Geschichte könnte erzählt werden, die des 15jährigen bibliophilen Kafka Tamura, der seinen Vater und seine Umgebung verlässt (die Mutter ist mit der Schwester abgehauen, als Kafka vier Jahre alt war), um etwas Neues anzufangen, seinen eigenen Weg zu finden. Doch anstatt seinen Protagonisten Schritt für Schritt in die Autonomie samt all ihren Widersprüchen, Gefahren und Skurrilitäten gehen zu lassen, platziert Murakami seinen Kafka in einer spiritistischen Sitzung, in der nach und nach die Geister der europäischen Literatur, Philosophie und Mythologie beschworen werden.

Auftritt Ödipus: Kafka wird mit seiner Mutter schlafen und seinen Vater töten, lautet die Prophezeiung des Vaters, der nur wenig später die Gestalt Johnnie Walkers annimmt und prompt von Nakata, dem irgendwie magisch mit Kafka verbundenen zweiten Protagonisten des Romans, erstochen wird. Die Mutter erscheint dem 15jährigen zuerst als Gleichaltrige im Traum, als 50jährige jedoch hüpft sie rasch in des Sohnes Bett.

Auftritt Hegel: Nakatas Freund Hoshino sucht einen Eingangsstein zu einer ominösen anderen Welt und landet dabei bei einer Prostituierten. Zur Fellatio zitiert sie Henri Bergson, vor dem folgenden Fick bittet Hoshino sie um weitere philosophische Anregung. Und so führt schließlich Hegels Satz zu einer Erektion: »Ich ist der Inhalt der Beziehungen und die Beziehungen selbst.«

Auftritt William Butler Yeats: Bei der Lektüre eines Buches über den Prozess gegen Adolf Eichmann findet Kafka eine Notiz seines Freundes Oshima, der mit der Traumlyrik des irischen Dichters die Funktionsweise des Nationalsozialismus analysiert und zum Ergebnis kommt, Eichmann habe es an Phantasie gemangelt.

Auftritt Franz Kafka: Kafka Tamura erläutert Oshima die Erzählung »In der Strafkolonie« von Franz Kafka: »Statt zu versuchen, unsere Lebenssituation zu erklären, erklärt Kafka bloß die mechanische Funktionsweise dieser komplizierten Maschine. Auf diese Weise kann er unsere Situation präziser erklären als jeder andere. Er schildert nicht die Situation, sondern die Einzelteile einer Maschine.«

Murakami hingegen schildert weder die Situation noch die Einzelteile, »Kafka am Strand« ist lediglich Metapher, Phantasie, Traum, und meistens wird all das auch noch bunt durcheinander gewirbelt. Damit entsorgt er ganz nebenbei Franz Kafkas dichterisches Konzept, das Irreale dem Realen gleichzustellen und damit neue Einblicke in die uns umgebende Welt zu ermöglichen.

Der Literaturwissenschaftler Oskar Walzel charakterisierte Kafkas Methode einmal so: »Kafka nimmt das Wunder nur einmal in Anspruch und arbeitet im Übrigen nur noch mit einer Wahrung des Wirklichkeitseindrucks, um die ihn ein Naturalist beneiden könnte.« Statt »Kafka am Strand« hieße der Roman besser »Yeats am Strand«, denn von Yeats’ theosophischem Spiritualismus findet sich in ihm einiges mehr als von Kafkas »Logik im Wunderbaren« (Walzel).

Murakami scheint gewusst zu haben, dass der Roman ins Esoterische abzugleiten droht. Er hat mehrere Ebenen eingezogen, um dies zu verhindern. So verwenden seine Akteure nicht nur ständig allerlei Metaphern, sondern sie reden auch über sie. »Wie Goethe gesagt hat, ist die ganze Welt Metapher«, sagt der Bibliothekar Oshima zu Kafka, später diskutieren sie darüber, ob eine Prophezeiung nur als Traum taugt oder ob sie auch Analogie oder Allegorie sein darf. Was Murakami als distanzierende und manchmal auch komische Momente angelegt hat, funktioniert aber im Verlauf des Romans längst nicht mehr. Man hat sich bereits hoffnungslos im Geisterhaus verlaufen, die Spur zurück ist verloren, und die schale Ironie untoter Dichter und Philosophen zwingt einen noch zum Umweg in den tiefsten Keller.

Murakamis Werk wird häufig mit dem Hermann Hesses verglichen. Bei beiden finden sich in der Tat erstaunliche Übereinstimmungen, was »das Gefühl der Ohnmacht, überhaupt nie ein eigenes Leben geführt zu haben, und das dringende Bedürfnis, dieser Ohnmacht auf den Grund zu gehen« (Leander Scholz), betrifft.

Auf den Grund, den eines ausgetrockneten Brunnens, stieg folgerichtig der Protagonist Toru Okada in Murakamis letztem großen Roman »Mr. Aufziehvogel« hinab. Wem schon das viel zu symbolisch war und wer darüber hinaus älter als 15 ist, der sollte von »Kafka am Strand« mit all seinen magischen Zwischenwelten die Finger lassen. Dieser Roman über Träume ist ein Alptraum der Gegenwartsliteratur.

Haruki Murakami: Kafka am Strand. Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont, Köln 2004, 637 S., 24,90 Euro

Nach dem Beben. Erzählungen. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Dumont, Köln 2003. 186 S., 19,90 Euro

Wie ich eines schönen Morgens im April das 100%ige Mädchen sah. Erzählungen. Aus dem Japanischen von Nora Bierich. Berliner Taschenbuch Verlag. Berlin 2004, 224 S., 8,70 Euro