Einbahnstraße U-Bahn

Mit dem neuen Preissystem der BVG steht ein lukrativer informeller Arbeitsbereich vor dem Aus. Oder? von martin kröger

Heute ist der letzte Tag, ab morgen bin ich arbeitslos.« Der 30jährige Fabrizio Nester* muss lachen, wenn er an den Verlust seines inoffiziellen Mitarbeiterjobs bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) durch die Einführung der neuen, höheren Fahrpreise denkt. Bis zum 31. März dieses Jahres verkaufte der Sizilianer täglich acht Stunden an einem U-Bahnhof in Kreuzberg Fahrkarten, die ihm zuvor von Fahrgästen geschenkt worden waren.

Das war möglich, weil die normalen Fahrkarten bisher eine Gültigkeit von zwei Stunden im gesamten Streckennetz besaßen. Ein lukratives Geschäft für Nester, der seinen wirklichen Namen nicht in einer Zeitung erwähnt sehen möchte, weil er schon zweimal von Zivilpolizisten bei der »Schwarzarbeit« verhaftet wurde. Die betrieb er immerhin vier Jahre lang. »Ich konnte gut von dieser Arbeit leben«, sagt er. Schließlich sei er sein eigener Chef gewesen: »Wann und wie ich arbeiten wollte, konnte ich immer selber bestimmen.«

Probleme gab es außer mit den offiziellen Angestellten der BVG selten. »Von 100 Leuten fanden 90 meinen Job super und gaben gerne ihre Fahrkarte weiter«, sagt Nester. Ganz nebenbei, während seiner Arbeitszeit, verdingte er sich als Informationssäule im komplizierten und undurchschaubaren Preisdickicht der BVG – vom Tragen hunderter Kinderwagen ganz zu schweigen.

Mit der Einführung des neuen Preissystems der BVG zum 1. April hat sich der Job für Nester erledigt. Denn die neuen Fahrscheine sind zwar weiterhin zwei Stunden gültig, aber sie gelten nur noch für eine Fahrtrichtung. Ein Normalticket kostet jetzt zwei Euro statt 2,20 Euro, doch wegen der ausgeschlossenen Rückfahrt werden nun satte vier Euro für dieselbe Strecke ab fünf Stationen fällig. Dazu kommt, dass die Definitionshoheit über die richtige Richtung und den ausgewählten Weg nicht bei den NutzerInnen der öffentlichen Verkehrsmittel liegt, sondern bei den Kontrolleuren der BVG.

Die sollen nach eigenem Ermessen über den korrekt eingeschlagenen Fahrtweg entscheiden. Das dürfte das angespannte Verhältnis der BerlinerInnen zu den Kontrolleuren weiter verschlechtern. Besonders auf dem S-Bahnring könnte es Probleme geben, da Rundfahrten bis zum Ausgangsbahnhof untersagt sind, es sei denn, man steigt eine Station vor Wiederankunft aus.

Hart trifft es die HundebesitzerInnen. Vierbeiner, die bisher gratis mitfahren konnten, benötigen jetzt eine eigene Karte zu 1,40 Euro. Kräftig angehoben wurden auch die Preise für Monats- und Zeitkarten, und nachdem schon zum Januar das kostengünstige Sozialticket abgeschafft wurde, fällt nun das Arbeitslosen- und Seniorenticket dem Sparwahn zum Opfer.

Besonderen Unmut dürften die Preiserhöhungen nicht zuletzt deshalb auslösen, da sie zu einem Zeitpunkt kommen, in dem die Vorstandsriege der BVG in der öffentlichen Kritik steht, weil sie sogar nach Ansicht des Berliner Rechnungshofs weit überzogene Gehälter kassiert hat. Die Anzahl der außertariflich bezahlten Führungsstellen verzehnfachte sich seit dem Jahr 1993 auf über 80, während sich im gleichen Zeitraum die Anzahl der übrigen Mitarbeiter halbierte. Damit nicht genug, verlangt die BVG-Führung in den laufenden Tarifverhandlungen von ihren Angestellten einen Lohnverzicht von 30 Prozent. Jeder dritte BVG-Arbeitsplatz soll ganz gestrichen werden, um das defizitäre öffentlich-rechtliche Unternehmen für die geplante Privatisierung im Jahr 2007 rentabel zu machen.

Dass die Rechnung der BVG, durch das neue Preissystem endlich Gewinne zu erwirtschaften, aufgeht, bleibt zu bezweifeln. Günstige Tickets aus zweiter Hand wird es trotz der Änderungen auf jeden Fall weiterhin geben. Marie Mai*, die ebenfalls im informellen Ticketgewerbe tätig ist, hat sich schon ein neues System für den Weiterkauf von Tickets überlegt.

»Zwar wird es jetzt komplizierter«, sagt sie, »aber aufgeben möchte ich deswegen trotzdem nicht. In Zukunft werde ich ein doppeltes System einführen«, erzählt sie schelmisch blinzelnd. »In einer Jackentasche werde ich die eine Fahrtrichtung bereithalten, in der anderen die Gegenrichtung. Hier auf der Ringbahn wird das gut funktionieren«, glaubt sie, denn die Karten gelten ja weiterhin für 120 Minuten.

Marie Mai finanziert mit dem Job ihre aufwändigen Zahnbehandlungen, die sie von ihrer Sozialhilfe nicht bezahlen kann. »15 bis 20 Euro Stundenlohn sind bei niedrigem Arbeitstempo drin. Starverkäufer können locker das Doppelte machen.«

Für die Zeit nach dem 1. April hat Mai vorgesorgt: Sie hat aus BVG-Materialien für ihre Kunden ein eigenes Infoblatt zusammengeklebt, das zusammen mit ihren mündlichen Erläuterungen mehr aufklärt als das offizielle Informationsblatt.

Ungewiss ist allerdings, ob Marie Mai weiterhin bereits auf der Anfahrt zu ihrem Arbeitsplatz Geld verdienen wird. Bisher kaufte sie sich beim Betreten des U-Bahnbereichs eines der billigen Tickets bei einem informellen Verkäuferkollegen, der genau wie sie und Nester mit den schon benutzten Fahrkarten handelt. Das Ticket war dann das erste, das sie bei Arbeitsantritt weiterverkaufte. »Ich fahre U-Bahn und verdiene noch Geld dabei«, strahlt sie, bevor sie sich dem nächsten Schwall von Fahrgästen auf dem Friedrichshainer Umsteigebahnhof zuwendet, auf dem sie normalerweise mit einem Bekannten den Job erledigt.

Bis vergangene Woche waren die Verkaufsplätze, deren Lukrativität von Lage, Art des Bahnhofs und der Zeit abhing, fest unter den informellen VerkäuferInnen aufgeteilt. In den letzten Monaten fanden nach Einschätzung von Mai immer mehr Personen in diesem System Arbeit. Mit dem neuen Preissystem dürfte sich das ändern, wenn Verkäufer wie Nester aufgeben und umsatteln. Es sei denn, der Widerstand und der Zorn der Kunden stoppt die Preispolitik der BVG und des Senats.

Fabrizio Nester glaubt zwar nicht an die Widerstandsfähigkeit der Deutschen, da sie, im Gegensatz zu seinem Heerkunftsland Italien, kaum Widerstand gegen den Sozialabbau leisten. Dabei wäre es doch so einfach, seinen Arbeitsplatz zu retten: »Wenn die Leute nur zwei Tage aus Protest nicht die U- und S-Bahn benutzen, hat sich die Fahrpreiserhöhung erledigt«, meint Nester.

Dass es für Protest höchste Zeit ist, dachten sich auch 25 Erwerbslose, Studierende und Obdachlose, die in der AG Mobilität der Initiative für ein Berliner Sozialforum organisiert sind. Am Stichtag für die neuen BVG-Tarife am vergangenen Donnerstag besetzten sie das Büro des BVG-Vorstandsvorsitzenden, um gegen die Verteuerungen zu protestieren und die Wiedereinführung der Sozialtickets zu fordern. Immerhin wird sich der BVG-Vorstandsvorsitzende, Andreas Graf von Arnim, Mitte April einer öffentlichen Diskussion stellen. Daran sollen auch Mitglieder des rot-roten Senats teilnehmen, die für die BVG als Anstalt des öffentlichen Rechts zuständig sind.

Weitere Proteste wie eine Demonstration und ein Sektempfang für SchwarzfahrerInnen vor der BVG-Geschäftsstelle sind für den 17. dieses Monats geplant. »Wir werden einen heißen April erleben«, verspricht Yann Eric Döhner von der AG Mobilität. Immer mehr direkt Betroffene würden sich bei seiner Gruppe melden und Proteste anmahnen, erzählt er.

So könnte ganz nebenbei doch noch der Arbeitsplatz von Fabrizio Nester erhalten bleiben. Wer sonst soll all den Kreuzberg-TouristInnen erklären, wie Berliner Fahrkartenautomaten funktionieren?

* Namen von der Redaktion geändert