Time of the Gypsies

Die britische Presse startete in den vergangenen Wochen eine Hetzkampagne gegen Roma. Alle EU-Staaten werden ihre Arbeitsmärkte für Einwanderer verschließen. von karin waringo, brüssel

Knapp vier Monate vor dem Stichdatum, dem 1. Mai 2004, wird in Großbritannien schon die Wäsche hereingeholt und die Kinder werden in Sicherheit gebracht. Glaubt man den Berichten britischer Medien, steht dem Vereinigten Königreich eine der größten Invasionen seiner Geschichte seit dem Einfall der Römer und der Normannen bevor.

»Die Zigeuner kommen!« heißt es. Am 20. Januar veröffentlichte der Daily Express eine Europakarte, auf der rote Pfeile abgebildet waren, die – ausgehend von den osteuropäischen EU-Beitrittsländern – auf die Insel zeigten. Zur Erklärung hieß es: »Die große Invasion. Wo die Zigeuner herkommen.« 1,6 Millionen Roma säßen bereits auf gepackten Koffern, »bereit um einzufließen«. Zwei Tage zuvor, in der Sunday Times, waren es lediglich 100 000. Doch Roma vermehren sich bekanntlich schnell.

Die Zahlenarithmetik ist einfach: Man nehme die Gesamtheit aller Roma der zukünftigen neuen Mitgliedsstaaten und erkläre sie zu potenziellen Einwanderern. Man kalkuliere außerdem mit dem latenten Euroskeptizismus in Großbritannien, wo der Zuspruch zur Ost-Erweiterung einer der niedrigsten in der EU ist. Nun fehlen nur noch der weit verbreitete Hass und jahrhundertealte Vorurteile gegen Roma, die auch in Großbritannien gesellschaftlich an den Rand gedrängt werden. Und schon hat man den Stoff für eine Hetzkampagne.

Mitte Januar war es zunächst The Economist, der das Thema Einwanderung und Ost-Erweiterung aufgriff. Denn wenige Monate vor dem Beitrittstermin zeichnet sich ab, dass Großbritannien und Irland vermutlich die einzigen EU-Staaten sein werden, die den Bürgern der neuen EU-Länder einen ungehinderten Zugang zu ihrem Arbeitsmarkt gewähren und der im Rahmen der EU garantierten Freizügigkeit von Personen ihre volle Gültigkeit verschaffen. Alle anderen EU-Mitglieder haben bereits verkündet, dass sie von den Übergangsfristen Gebrauch machen, die in den Beitrittsverträgen festgehalten sind. Demnach können die alten EU-Staaten Neu-Europäer sieben Jahre lang von ihrem Arbeitsmarkt aussperren, was wiederum auch andere Rechte, wie etwa die Niederlassungsfreiheit, erheblich einschränkt.

Trotz des reißerischen Titels »Die kommenden Horden« versuchte The Economist, das Ausmaß des erwarteten Bevölkerungszustroms zu relativieren und Kosten und Nutzen der neuen Einwanderungsbewegung anhand von Studien abzuwägen. Wie man es von ihm erwarten kann, stellte sich das Magazin ganz auf die Seite der Wirtschaft und trug vor, dass die neuen Einwanderer selbst dann noch »wirtschaftlich wertvoll« seien, wenn sie in Massen kämen und die alteingesessene Bevölkerung vom Arbeitsmarkt verdrängten, »da sie vermutlich mehr an Arbeitskraft einbringen, als sie an Löhnen herausziehen«. Und um ganz sicher zu sein, dass diese Kosten-Nutzen-Rechnung für Großbritannien positiv aufgeht, schlug das Blatt vor, die sozialen Sicherungssysteme zu »verfeinern« und Personen, die sich nur vorübergehend im Land aufhalten, vom Anspruch auf Sozialleistungen auszuschließen.

Doch was dem einen recht ist, ist dem anderen noch lange nicht billig. The Economist brauchte keine ausgefeilten Analysen, um herauszufinden, dass es unter den Osteuropäern eine Schicht gibt, die traditionell nichts anderes tut, als von öffentlichen Sozialleistungen zu leben: die Roma, wie sie im Artikel immerhin noch politisch korrekt heißen. Der Zeitung ist durchaus bekannt, dass die Roma in Osteuropa überdurchschnittlich von Arbeitslosigkeit und Armut betroffen sind. Doch deshalb will man sie noch längst nicht in Großbritannien. Was tun also? Hier erinnerte The Economist an die guten alten Zeiten, als Großbritannien asylsuchende Roma aus der Slowakei durch die Wiedereinführung der Visapflicht an der Einreise in das Königreich hinderte und es unmöglich machte, dass ihre Anträge auf Asyl einer rechtmäßigen Prüfung unterzogen werden konnten, und bedauerte, dass solche Praktiken nach der Ost-Erweiterung illegal sind.

Ein paar Tage später sprang die britische Yellow Press auf den vom Economist angeschobenen Zug. Die Argumentation blieb die gleiche; nur verzichtete die Tabloid-Presse auf komplizierte Rechenübungen und präsentierten ihren Lesern stattdessen »Beispiele«. The Sun schickte einen ihrer Reporter in die Slowakei, wo ihm ein Roma anvertraute: »Wir warten nur darauf, nach Großbritannien zu kommen. Wir möchten ein besseres Leben. Im Mai werde ich ganz sicher den Bus nach London nehmen.« Der Daily Express interviewte den 21jährigen Frantisek Polakowicek aus Bratislava, der ihm erzählte, dass er von Sozialhilfe leben werde, falls er in Großbritannien keinen Job finde: »Am Anfang wird es teuer sein, aber irgendjemand wird für meine Familie aufkommen müssen.« Ihre Zahlen bezogen die britischen Tabloids aus einer Studie von Migration Watch. Die Organisation, die die Einwanderungsdebatte mit pseudowissenschaftlichen Halbwahrheiten anheizt, hat bereits im Juni 2003 vor einem massiven Zustrom osteuropäischer Roma gewarnt.

Hetzkampagnen gegen Roma haben in Großbritannien Tradition. Seit 1989 haben The Sun und andere Blätter immer wieder eine Invasion des Königreichs durch osteuropäische Roma vorausgesagt und den Roma unterstellt, das gesellschaftliche Gefüge in Großbritannien aus den Angeln heben zu wollen. Für asylsuchende Roma aus der Tschechischen Republik erfanden die Boulevardblätter das rassistische Label »Euro Czechs«. Will heißen: Die Roma kommen nur, um abzukassieren.

Die jetzige Kampagne gewinnt deshalb an Brisanz, weil sie in einem Moment stattfindet, da in ganz Europa der nationale Chauvinismus hoch im Kurs steht.

Am vergangenen Mittwoch landete die Botschaft endlich beim Empfänger. Nachdem Schweden einige Tage zuvor als bisher letzter EU-Staat erklärt hatte, dass es seinen Arbeitsmarkt ebenfalls zunächst geschlossen halten werde, musste Tony Blair die Haltung der britischen Regierung vor dem Parlament rechtfertigen. Der Premier zeigte sich in der Debatte einsichtig: »Es ist wichtig, dass wir das Risiko anerkennen, das von der Einwanderung aus den neuen Beitrittsstaaten ausgehen kann.« Zeitungsberichten zufolge erklärte Blairs Sprecher anschließend, Großbritannien werde nach Möglichkeiten suchen, den Zugang zu einkommensgebundenen Sozialleistungen für Bürger aus den neuen Mitgliedstaaten stärker zu kontrollieren. Blair stellte in Aussicht, die einmal gewährte Freizügigkeit wieder zurückzunehmen, falls sich eine größere Störung des Arbeitsmarktes abzeichne.