Sterben vor der Küste

Tote Flüchtlinge vor der italienischen Insel Lampedusa gehen in die Statistik ein, sonst ändern sie wenig. Die fünf großen EU-Staaten verschärfen weiter die Kontrolle der Seegrenzen. von karin waringo, brüssel

Es war nicht das erste Unglück dieser Art. Erschreckend war vor allem das Ausmaß der Katastrophe. An einem Wochenende wurden gleich zwei Schiffe mit Flüchtlingen in der Meerenge von Lampedusa zwischen Sizilien und Tunesien geborgen. An Bord waren ein paar Überlebende, doch vor allem Tote. Wie viele der ehemaligen Passagiere bereits gestorben waren, konnte nicht ermittelt werden. Die Überlebenden des zweiten Schiffs sprechen von circa hundert Personen, mit denen sie drei Wochen zuvor von Libyen aufgebrochen waren. Nach drei Tagen fiel der Motor des zwölf Meter langen Frachters aus, und das Schiff trieb ziellos im Mittelmeer umher.

Was sich dann abspielte, ist schwer vorstellbar. Überlebende erzählen, dass sie Gebete anstimmten und ihre Verzweiflung in den Himmel schrien. Hunger und Kälte rafften die Menschen nach und nach dahin. Die Verbliebenen warfen die leblosen Körper über Bord. Doch am Ende reichten ihre Kräfte selbst dazu nicht mehr, und so teilten sie sich den Platz mit den Toten. 25 Menschen überlebten das erste Unglück, beim zweiten gab es nur 15 Überlebende. Am vergangenen Mittwoch wurden 13 Leichen auf dem Friedhof von Lampedusa, dem Hauptort der Insel, bestattet. Es wird spekuliert, dass noch weitere solche Schiffe auf dem Meer treiben.

Insgesamt 742 Menschen starben in den vergangenen 18 Monaten beim Versuch, Europa zu erreichen, schrieb Liz Filteke vom Londoner Institute of Race Relations Ende August. Ihre Aufzählung beruht jedoch lediglich auf den vorgefundenen Presseberichten und erhebt daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit. »Der gefährlichste Weg nach Europa ist es, übers Meer geschmuggelt zu werden«, stellt Filteke fest: 670 Menschen seien auf diesem Weg umgekommen. Die Statistik schnellt im Oktober also noch einmal dramatisch in die Höhe. Dabei war die See ruhig, es herrschten günstige Bedingungen, um die Überfahrt zu riskieren.

Tote kommen selten gelegen. Die italienischen Regierungsvertreter waren sichtlich betreten, als sich die Innenminister der EU-Staaten Spanien, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland vergangene Woche in dem Loire-Örtchen La Baule trafen. Themen des Treffens waren die gemeinsame Terrorismusbekämpfung und ausgerechnet die illegale Einwanderung. Erst im Juni hatte ein Schiffsunglück Italiens Regierung in einem vergleichsweise ungünstigen Moment in Bedrängnis gebracht. Im Rahmen eines europäischen Ratstreffens wurde gerade über Einwanderungskontrolle diskutiert, als die Meldung vom Tod von fast 200 Flüchtlingen aus Nordafrika eintraf.

Die Mittelmeerstaaten haben es während ihrer EU-Präsidentschaften innerhalb von zwei Jahren geschafft, Einwanderung und Asyl zu den Hauptthemen auf der europäischen Agenda zu machen. Seit dem Gipfel von Tampere im Herbst 1999 mehren sich die Bestrebungen, die Einwanderungspolitik der Mitgliedsländer näher aufeinander abzustimmen. Auf dem Gipfel von Sevilla im Juni des vergangenen Jahres nahm dieser Abstimmungsprozess einen deutlich repressiveren Charakter an, der unter anderem den Mittelmeerstaaten zuzuschreiben ist. In Sevilla wurde eine Reihe gemeinsamer Projekte zu einer effizienteren Kontrolle der europäischen Seegrenzen gestartet (Jungle World, 38/03). Die italienische Präsidentschaft möchte nun die gemeinsame Überwachung der Seewege in die EU weiter ausbauen und die anderen Mitgliedstaaten an deren Kosten beteiligen.

Den Regierungen der fünf großen EU-Staaten, die sich nun in La Baule trafen, gehen die gesamteuropäischen Bemühungen allerdings nicht weit genug. Zwar gehören einige von ihnen, unter anderem Deutschland und Großbritannien, zu den notorischen Bremsern, wenn es darum geht, einheitliche Standards für Einwanderer und Flüchtlinge in der EU einzuführen, die deren Rechte verbindlich regeln. Doch in Fragen der inneren Sicherheit wollen sie nun zügiger vorangehen, wie der französische Innenminister Nicolas Sarkozy erklärte. Sarkozy beanstandete insbesondere, dass die EU-Kommission im Kampf gegen illegale Einwanderung zu langsam reagiere. In La Baule war das anders. Am Ende des Treffens erklärte Otto Schily zufrieden: »Endlich ein Gipfel, wo man sich äußern kann und gehört wird.«

»Intensivierte Zusammenarbeit« heißt das im EU-Jargon, wenn sich einige Länder zusammentun, um in Bereichen gemeinsame Fortschritte zu erzielen, wo andere vielleicht noch nicht mitziehen. Die Gruppe der fünf großen EU-Staaten traf sich zum ersten Mal im Mai. In La Baule wurden die gleichen Themen gewälzt, die seit Monaten die europäische Tagesordnung bestimmen: die Einrichtung europäischer Einwanderungsquoten, die Frankreich und Deutschland wenige Tage zuvor beim Brüsseler Gipfel zu Fall gebracht hatten, Wiederaufnahmeabkommen mit Herkunftsländern von Einwanderern und Durchreisenden, die Einführung neuer, mit biometrischen Kennzeichen versehener Einreisedokumente und Aufenthaltsgenehmigungen und eine verstärkte Zusammenarbeit der polizeilichen Ermittler.

Der Zeitung Le Monde zufolge wollen die fünf bis zu ihrem nächsten Treffen im Februar, das in Deutschland stattfinden soll, eine gemeinsame Liste von so genannten sicheren Herkunftsländern zusammenstellen, deren Staatsbürger in der Union nur mehr ein sehr eingeschränktes Recht auf Asyl hätten. Spanien soll zudem eine Richtlinie erarbeiten, die Fluggesellschaften zwingt, Daten ihrer Fluggäste an die Grenzbeamten zu übergeben, was das Auffinden von Personen, die nicht innerhalb der zugestandenen Frist ausreisen, erleichtern soll.

Einige Projekte beziehen sich unmittelbar auf die europäischen Seegrenzen. Sarkozy schlug die Einrichtung einer »Sicherheitszone« im westlichen Mittelmeerraum vor. Außerdem soll eine Zusammenarbeit zwischen den sechs Anrainern, also Spanien, Frankreich und Italien im Norden und Marokko, Algerien und Tunesien im Süden, eingerichtet werden. Das Schema dieser Zusammenarbeit bleibt wie gehabt: Die Nicht-EU-Staaten erhalten einige Vergünstigungen und sollen dafür ihren Laden selbst aufräumen, sprich ihre und andere Bürger an der Ausreise in die EU hindern.

Doch in Anbetracht der Unglücke vor Lampedusa konnte es bei dem Treffen in der vergangenen Woche nicht nur um Abschottung gehen. Vor allem der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi und sein Innenminister Giuseppe Pisanu brachten die Rede wiederholt auf »die gemeinsame Verantwortung«.

Die Verantwortung Europas ist dabei sehr einfach definiert: Europa könne sich nicht ganz abschotten, zumal absehbar ist, dass der Kontinent zusätzliche Arbeitskräfte braucht. Schuld an der Flüchtlingsmisere seien allerdings die afrikanischen Staaten, die nicht für das Auskommen ihrer Bürger sorgen und politische Rechte mit den Füßen treten. Alles andere würde eine Debatte um sehr viel grundsätzlichere Fragen bedeuten, um Fragen nach den Ursachen von Flucht und Immigration, denen man sich natürlich nicht stellt. Nur bitte keine Toten mehr, jedenfalls nicht vor unseren Küsten!