Europa gehört in den Westen

Das europäische Projekt ist nicht abzuschreiben, sondern muss politisch forciert werden. von arthur heinrich

Wir halten dagegen. Auf »Freiheitsfritten« und ähnliche Sottisen von drüben kontert der dom-/bundesstädtische Boulevard mit der Volte »Amis fälschen unser Kölsch« (Express, 12. Mai 2003). Schluss mit lustig und dem universalistischen Credo der Bonner Alternativ-Session, die seit fünfzehn Jahren »Kölsch für die Welt« empfiehlt. Eine neue Runde im Kleinkrieg um die politisch korrekte Etikettierung von Genussmitteln.

Wenn es nur das wäre. Die Störungen im transatlantischen Verhältnis gehen entschieden tiefer. Und ein gemeinsam intoniertes »Heile heile Gänschen« wird da wenig ausrichten, selbst bei der großzügig bemessenen Genesungsfrist von hundert Jahren.

Die Ursache ist gewiss nicht, dass sich die rot-grüne Regierung in »dümmlicher Kraftmeierei« gegen die Washingtoner Irakkriegspläne versucht habe, wie Altkanzler Helmut Kohl meint. Grund für die vielfältigen Dissonanzen sind Veränderungen der weltpolitischen Konstellation, die sich seit längerem vollziehen. Spätestens seit am 21. Dezember 1991 in Alma Ata die Oberhäupter von elf vormaligen Sowjetrepubliken die UdSSR für nicht mehr existent erklärten und stattdessen eine Gemeinschaft Unabhängiger Staaten ausriefen, war es vorbei mit der Bipolarität als weltpolitischem Strukturmuster. George Bush senior hatte das Ende der 40jährigen west-östlichen Konfrontation vorweggenommen, als er in seiner »State of the Union Address« im Januar des gleichen Jahres seine Vision einer neuen Weltordnung vorstellte: »verschiedene Nationen, zusammengekommen zu dem gemeinsamen Zweck, die universellen Ziele der Menschheit zu verwirklichen – Frieden und Sicherheit, Freiheit und die Herrschaft des Rechts«.

Dass viele nicht nur hierzulande darauf mit jeder Menge Häme reagierten, weil sie die neue Ordnung im Golfkrieg zu erkennen glaubten, der – wohlgemerkt: abgesegnet vom Sicherheitsrat – die irakische Annexion Kuwaits beendete, änderte natürlich nichts an der Tatsache, dass sich die Welt im Umbruch befand, mit der guten Aussicht, die zuvor weitgehend blockierten Vereinten Nationen zu reanimieren und dem Völkerrecht zur Geltung zu verhelfen. Die starren Fronten des Kalten Krieges waren zusammengebrochen. Der zweite deutsche Staat trat dem ersten bei, die Europäische Union ließ sich jetzt auch gesamteuropäisch denken, in Europa wuchs die Distanz gegenüber Amerika, und Amerika begann, allmählich das Interesse an Europa zu verlieren.

Die verschiedenen Prozesse wurden kaum als beunruhigend wahrgenommen. Man registrierte die strukturellen Veränderungen, doch die wirkliche Dimension blieb seltsam verschwommen. Von einem Qualitätssprung, einer »Revolution der Weltordnung« (Habermas) war jedenfalls nicht die Rede.

Das änderte sich mit der von vornherein auf einen Waffengang angelegten Irakpolitik der Administration des George W. Bush. Diese spitzte die Frage nach der zukünftigen weltpolitischen Konstellation dramatisch zu, indem sie andere Länder, in erster Linie die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates, vor die Alternative stellte, dem amerikanischen Kurs zu folgen oder aber von der einzig verbliebenen Supermacht in die Ecke gestellt und mit demonstrativer Nichtbeachtung abgestraft zu werden. Die Bemühungen Washingtons, den Sicherheitsrat hinter sich zu bringen, scheiterten. Der Feldzug gegen den Irak führte zwar zum Sturz des Saddam-Regimes, dem man sicherlich keine Träne nachweinen muss; er entbehrte aber jeder völkerrechtlichen Grundlage. Und es ist längt nicht ausgemacht, dass es sich um einen Einzelfall handelte.

Der Irakkrieg und die auf die Zukunft ausgerichteten programmatischen sicherheitspolitischen Festlegungen der amerikanischen Neokonservativen haben die strukturellen weltpolitischen Veränderungen auf dramatische Weise in den Mittelpunkt gerückt. Der Westen ist, um es vorsichtig auszudrücken, infolge des amerikanischen Vorgehens gegen den Irak schwer beschädigt. Die Vereinigten Staaten haben sich aus dem, was bislang unter dem Label »westliche Wertegemeinschaft« gehandelt wurde, zumindet teilweise verabschiedet, denn auch die Legitimität politischen Handelns ist Bestandteil dieses Wertekodexes. Dies en passant zu ignorieren und darüber hinaus völkerrechtliche Zulässigkeit vorausgreifend in den Wind zu schreiben, kommt einem vorsätzlichen Ausscheiden aus dem westlichen Konsens gleich.

Wie soll man darauf reagieren? Eine der Möglichkeiten lautet »mit dabei« und »teilweise vorneweg« wie im Vorschlag der hiesigen Christdemokratie in Gestalt ihrer außenpolitischen Galionsfiguren Schäuble und Pflüger. Deren Leitsätze, die sich der CDU-Bundesvorstand Ende April zu Eigen gemacht hat, konstatieren eine »Schicksalsgemeinschaft« zwischen Europa und Amerika. Mit anderen Worten: gemeinsam durch dick und dünn; Raum für anders lautende politische Entscheidungen ist nicht vorhanden, und das in schönster Übereinstimmung mit dem gewichtigsten Altkanzler dieser Republik: »Ich wäre nach Washington gereist und hätte unseren amerikanischen Freunden gesagt: Die Intervention in den Irak ist notwendig, denn das Regime in Bagdad ist verbrecherisch.«

Und das andere Lager? Vorab: Kritik an der Politik des George W. Bush generell mit dem Label Antiamerikanismus zu versehen und ihr so die Berechtigung abzusprechen, ist ebenso einfältig wie unlauter. Kritik ist nicht nur angesagt, sie ist sogar aufgrund der weltordnungspolitischen Implikationen der Bush-Politik dringend geboten. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass entsprechende Kritiker daneben liegen. Ein Kardinalfehler besteht darin, die Irakinvasion als konsequente Fortsetzung des amerikanischen Vorgehens in Afghanistan zu betrachten. Jene Fraktion, die immer alles weiß und notorisch die Welt entsprechend vorwarnt (der unangefochtene Vorsitzende der amerikanischen Sektion heißt Noam Chomsky), geht der Selbstdarstellung der Bush-Administration auf den Leim, der aus Motiven, die sich von selbst verstehen, an einem Bild der Geradlinigkeit und Kontinuität gelegen ist.

Die Fälle Afghanistan und Irak liegen allerdings völlig anders. Der gemeinhin nicht zu verortende Terrorismus in Form von al-Qaida nutzte das Land der Taliban als sicheren Hafen. Die Vereinigten Staaten bemühten sich erfolgreich darum, ihr Einschreiten völkerrechtlich abzusichern. Beim Irak musste dann ein ganzes Begründungs-Medley herhalten, bei dem Massenvernichtungswaffen, ein diktatorisches, Menschenrechte mit Füßen tretendes Regime und al-Qaida-Kontakte im Angebot waren und sind (womit man den zweiten Mann der Koalition der Willigen, der sich ganz auf Massenvernichtungswaffen kapriziert hatte, einfach so in den Regen stellte).

Was tun? Man könnte darauf setzen, dass sich die Wogen im Laufe der Zeit glätten, dass den diversen Darstellern in eigener Sache auf Dauer daran gelegen ist, die Optik etwas freundlicher zu gestalten. Doch weder Shakehands vor laufenden Kameras noch Telefonate unter Männern, ja nicht einmal Vier-Augen-Gespräche ändern etwas an den grundsätzlichen Differenzen. Die lassen sich allenfalls überspielen – bis zum nächsten Mal, wenn es einen anderen bekannten Schurkenstaat oder Neuling auf der einschlägigen Liste trifft. Auf Einvernehmlichkeit und gute Laune zu machen, hilft nicht weiter.

Stattdessen an einer »Wiedergeburt Europas« zu arbeiten, das sich unter anderem dazu versteht, »eine kosmopolitische Ordnung auf der Basis des Völkerrechts gegen konkurrierende Entwürfe zu verteidigen und voranzubringen«, um auf diese Weise den »hegemonialen Unilateralismus der Vereinigten Staaten auszubalancieren«, wie es Jürgen Habermas und Jacques Derrida in ihrem bekannten Papier forderten, ist eine plausible und überaus attraktive Vorstellung. Allein, wie realitätstauglich ist diese Vision?

Die Vision eines Europa als Gleichgewichtsfaktor ist sicher nicht von heute auf morgen zu realisieren. Dagegen spricht die Beharrungskraft nationaler, regionaler und lokaler Identitäten, die sich kaum über Nacht durch ein europäisches Selbstverständnis ergänzen, geschweige denn ersetzen lassen. (Hinzu kommt, dass hinreichend einflussreiche politische Kreise in den europäischen Ländern es sich zur Aufgabe gemacht haben, den gegenwärtigen Identitätsstand zu konservieren.)

Es besteht keinerlei Anlass, das europäische Projekt abzuschreiben. Im Gegenteil, es muss politisch forciert werden. Und das geht nur durch die Wiederbelebung des europäischen Integrationsprozesses, vor allem der französisch-deutschen Kooperation. Bei der europäischen Einigung auf den letzten Nachzügler zu warten, der Teile seiner gerade erst gewonnenen Souveränität partout nicht delegieren will, wäre fatal und nur noch zu überbieten, indem das Vorhaben Europa von vornherein auf die Herstellung einer möglichst großen Freihandelszone reduziert wird.

Die Schaffung eines politisch handlungsfähigen vereinten Europas wird geraume Zeit in Anspruch nehmen, ist aber das logische Resultat einer längst in Gang gesetzten Entwicklung, die auch eine Modifizierung der transatlantischen Beziehungen mit sich bringt. Soll die Neubestimmung der Partnerschaft zwischen Europa und Amerika einvernehmlich und kooperativ erfolgen, muss man darauf bauen, dass sich Amerika in Gestalt seiner Bürger 2004 von den »selbsternannten Sendboten Gottes« (J. William Fulbright) abwendet und sich darauf besinnt, um welch wertvolles Gut es sich bei der Demokratie handelt, dass hundertprozentige Sicherheit nicht zu haben und die Legitimität außenpolitischen Handelns schwerlich zu ersetzen ist. Alexis de Tocqueville (»Über die Demokratie in Amerika«, 1835) jedenfalls war in diesem Punkt optimistisch: »Wenn es ein Land gibt, in dem man hoffen darf, das Dogma der Volkssouveränität in seinem wahren Wert würdigen ... zu können, so ist dieses Land Amerika.«