Der Freiheit eine Gasse

Über den nächtlichen Genuss alkoholhaltiger Getränke unter freiem Himmel und den Terror des Anwohners. Ein Einwurf zur rechten Zeit von thomas blum

Irgendwann in seinem Leben sagt jeder halbwegs bei Verstand gebliebene Mensch einmal den entscheidenden Satz. Dieser Satz lautet: »Ich möchte noch ein großes Bier, bitte.«

Es ist ein Satz, über den sich eigentlich alle freuen sollten. Der Blick des Kellners wird gleichermaßen warm und verständnisinnig, und der Gast kann sich erwartungsvoll zurücklehnen. Da mag man gerade weit nach Mitternacht oder morgens irgendwo draußen sitzen, an einem Wirtshaustisch, versonnen den Sternenhimmel, die vorbeirauschenden Autokolonnen oder den allerorten hübsch auf der Straße verteilten Müll betrachten und sich gelassen in Kontemplation üben. Wenigstens eine Sache in dieser stets unübersichtlicher und chaotischer werdenden Welt jedenfalls kann als sicher gelten: Das Bier kommt gleich auf den Tisch. Und dann ist der Durst besiegt. Zumindest vorerst.

Und es mag einem dann möglicherweise so gehen, wie es ein bekannter Künstler hellsichtig in Poesie gefasst hat: »Der Maikäfer dreht / um den Tisch eine Runde. / Du weißt nicht das Jahr, / du kennst nicht die Stunde. / Die Kastanie im Biergarten blüht, / freue dich, / du bist auf erdbebensicherem Gebiet.«

Vielleicht hat man jedoch schlicht einen gehörigen Rausch. Aber so muss das auch bisweilen sein. Jedenfalls wird prompt das georderte Bier serviert, das einem erlaubt, noch ein Weilchen länger Ferien vom Kopf zu machen. Und niemand, niemand käme jetzt auf die alberne Idee zu fragen, wie spät es ist.

Außer einer ganz bestimmten Sorte Mensch: der Anwohner, der die nächtens schamlos zechenden Herumtreiber deshalb so inbrünstig hasst, weil er dumpf spürt, dass die unbekümmert saufenden Lumpenproletarier da draußen es besser haben als er selbst, der nichts weiter ist als ein Sklave der Uhr, darauf dressiert, bei Tagesanbruch zu funktionieren.

So kommt es, dass in Berlin immer wieder solche Anwohner von Kneipen und Biergärten, in welchen bis spät in der Nacht Gäste bewirtet werden, die dabei entstehenden Geräusche als »Dauerterror« bezeichnen und wegen angeblicher Lärmbelästigung erfolgreich geklagt haben. Und so kann keiner in Frieden trinken, solange es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Die gerichtlich angeordneten Sperrzeiten sollen dafür sorgen, dass nach 22 Uhr keiner mehr draußen sitzt und sich des Lebens freut.

Das Nachtleben, ein bekanntermaßen seit je unbezähmbares Ereignis, wollen die Anwohner zu einer artigen, eisern durchreglementierten Veranstaltung machen, bei der auch mal ein Hemdknopf geöffnet werden darf und die punktgenau dann beendet werden soll, wenn der Chef es befiehlt.

Kann man aber etwa einer Sache wie dem leidenschaftlichen Saufen, das wie die Liebe eine Herzensangelegenheit ist, mit bürokratischen Vorschriftskatalogen beikommen? Das glaubt auch die Berliner Landesregierung, die »dafür plädiert, die Öffnungszeiten in Biergärten oder Restaurants mit Plätzen unter freiem Himmel zu verlängern und das Angebot bis 24 Uhr auszuweiten« (Berliner Zeitung). Das pulsierende Nachtleben, das der deutsche Sozialdemokrat sich vorstellt, unterscheidet sich demnach nur graduell von der Betrachtungsweise des Anwohners.

Daher lautet die bei weitem wichtigste Frage dieses Sommers: Kann der nachts trinkende Großstadtmensch heute überhaupt noch frei sein? Und wenn ja, bis wie viel Uhr?

Was viele nicht sehen, nicht wissen oder nicht wahrhaben wollen: Schankwirtschaften, die es als ihren Beitrag zur Zivilisation betrachten, dass ihre Gäste unter freiem Himmel bis zum Morgengrauen oder rund um die Uhr anstandslos bedient werden, müssen gerade in Berlin, einer Stadt, deren Bevölkerung im In- und Ausland vor allem für ihre barbarische Unhöflichkeit bzw. schroffe Feindseligkeit gegenüber Ortsfremden bekannt ist, als Avantgarde betrachtet werden, als immer geöffnete Zufluchtsstätten für gebeutelte durstige Ruhelose, die nur den verständlichen Wunsch haben, sich irgendwo für einen Moment niederzulassen, um sich selbstvergessen an einem Bierglas festzuhalten und dennoch eine Zeit lang ganz bei sich selbst zu sein.

Darüber hinaus sind Abend- und Nachtlokale mit Ausschank im Freien die letzten noch verbliebenen Refugien für Menschen, die sich dem beständigen gewaltsamen Zugriff der verwalteten Welt zu entziehen suchen, und sei es auch nur für einen Augenblick, während sich das Rad der Geschichte erbarmungslos dreht, bzw. für drei oder vier große Biere, deren Genuss unter Gleichgesinnten es ihnen kurzzeitig erlaubt, etwas in sich zu befeuern, das sie bis dahin für erloschen gehalten haben.

Aber es sind auch die letzten wahrhaft urbanen Stätten der vermeintlichen Metropole Berlin, an welchen spät nachts, wenn der Anwohner sich seine Schlafmütze zurechtrückt, unter nimmermüden kämpferischen Geistern freisinnig disputiert wird, die Geschicke der Welt verhandelt werden und die letzte verbliebene allgemeinverständliche Weltsprache gepflegt wird: »Beer«, »Birra«, »Bier«, »Bière«. Viel mehr muss im Zweifelsfall auch gar nicht gesprochen werden.

Und wenn dem einen oder anderen früher oder später die Sprache den Dienst versagt, so genügt, nicht anders als in der Liebe, meist ein Blickwechsel, ein Fingerzeig, ein Augenaufschlag, um dem Wirt bzw. dem geliebten Menschen zu bezeigen, dass die Getränke bzw. Säfte weiter fließen mögen.

In einigen Bezirken Berlins geschehen solcherart Wunder noch. Bei Einbruch der Dunkelheit verwandeln sich dort im Sommer zuvor unscheinbare Straßenzüge, in denen tagsüber noch sinnentleertes geschäftiges Treiben herrschte, in ein zauberisches Bohemia, in dem man keinen Pass mehr braucht, sondern nur großen Durst und ein paar Geldmünzen. Ein über mehrere Berliner Innenstadtregionen gleichsam unwirklich und labyrinthisch sich erstreckendes Wunderland aus Holztischen und Bierbänken, in welchem man sich die von den eingeatmeten Auspuffgasen ausgedörrten Kehlen mit kühlem Nass benetzt und in dem nichts als der zarte Klang aneinander stoßender gefüllter Krüge die laue Nacht erfüllt.

So und nicht anders klingt der Soundtrack von Freiheit und Abenteuer. Und wer vom allerletzten Bier die Finger lässt und sich stattdessen für das Tageslicht rüstet, indem er sich ein, zwei Schnäpse reinpfeift, dem blitzt für einen Sekundenbruchteil vielleicht sogar eine leise Ahnung vom goldenen Zeitalter auf.

Nun aber geschieht es nach wie vor, dass eine Hand voll niederträchtiger Berliner Anwohner solchem harmlosen Treiben den Garaus machen will. Sie führen Worte im Mund, die einst von sauertöpfischen Krämerseelen, Arbeitsfetischisten und Hausmeistern nur zu dem Zweck ersonnen wurden, um die Boheme, die sich allerorten frei assoziierenden Angehörigen des nächtlich blühenden Landes Bohemia, ihrer Freiheit zu berauben. Von »Gesetz«, »Ordnung«, »Nachtruhe«, »Sperrstunde« und dergleichen Klimbim ist da die Rede. Das ist Papperlapapp. Die Möglichkeit, zu jeder Tageszeit an jedem beliebigen Ort ein kühles Bier zu sich zu nehmen, wiegt mehr.

Der Freiheit eine Gasse: Trinkt nachts und draußen! Auf den Straßen, in den Parks, auf den Balkons. Auf dass der Anwohner sein Waterloo erlebe.