100 Jahre Tour de France

Weiter, immer weiter!

Ausschnitte aus 100 Jahren Tour de France. Von Ralf Schröder und Hubert Dahlkamp

1904

Gnadenlos gegeneinander konkurrierende Fahrradfirmen sorgten für ein beträchtliches Desaster. Ohne einen Anflug sportlicher Skrupel bezahlte man Saboteure, die den jeweiligen Mitbewerbern das Leben schwer machten. Angesägte Fahrradrahmen, mit Gift versetzte Getränke, hautreizende Substanzen im Fahrradtrikot oder mit Nägeln übersäte Fahrbahnen waren an der Tagesordnung.

Ferner konnte man beobachten, dass Autofahrer im Renntross versuchten, lästige Konkurrenten von der Straße zu drängen. Weitere Übergriffe wurden von übergeschnappten Lokalpatrioten beigesteuert, die Fahrer aus der eigenen Region vorne sehen wollten. Als das Fahrerfeld sich während der zweiten Etappe über den Col de la République im Zentralmassiv quälte, entwischte der aus dieser Gegend stammende Faure unter dem frenetischen Applaus seiner Landsleute, die gleichzeitig dazu übergingen, folgende Fahrer tätlich anzugreifen. In der Nähe von Saint Étienne musste die Polizei mit Schusswaffen drohen, um zu verhindern, dass der führende Maurice Garin niedergeknüppelt wurde. Der tobende Mob wollte auch hier Faure in Front sehen. Als in Nîmes der Fahrer Paysan wegen Betrugs disqualifiziert wurde, zettelten seine Anhänger eine zünftige Straßenschlacht an.

 

1911

Ruhetag in Marseille. Die beiden Stiefbrüder François Faber und Ernest Paul lassen sich bei einem Stadtbummel von der Idee überwältigen, in einem der einladenden kleinen Fischrestaurants am Alten Hafen zu speisen; neben Austern, Langusten und Muscheln verwöhnen sich die beiden auch mit Käse, Bordeauxwein und einigen Cognacs. Das Gelage soll drei Stunden gedauert und fast das gesamte Bargeld der Radler gekostet haben.

In der Nacht gibt es im Hotel der Sportler Großalarm. Pauls Zunge ist schwärzlich angeschwollen, sein Körper wird von unerträglichen Krämpfen malträtiert. Ein herbeigerufener Arzt diagnostiziert eine schwere Fischvergiftung und empfiehlt, einen Pfarrer zu benachrichtigen. Doch im Morgengrauen, während sein Bruder dem Kranken unaufhörlich, wie es der Mediziner geraten hatte, Eisstückchen in den Mund schiebt, geht die Schwellung zurück und Paul verlangt zu trinken. Danach verbessert sich sein Zustand zusehends – und wenig später sehen die Passanten vor dem Hotel eine schwankende Gestalt auf ein Rennrad steigen.

 

1913

Der Franzose Eugène Christophe wollte die Pyrenäen nutzen, um an die Spitze des Klassements zu fahren. Auf der Passhöhe des Col du Tourmalet hatte er quasi planmäßig einen Vorsprung von 18 Minuten auf seine Konkurrenten. Vorsichtig begann der Franzose die Abfahrt, in der Hoffnung, sein stattlicher Vorsprung könne bereits den Gesamtsieg bedeuten. Doch dann passierte die Geschichte, die TV-Kommentatoren noch heute alljährlich während der Tourmalet-Etappe erzählen.

An Christophes Velo brach die Gabel; der Fahrer schulterte sein Arbeitsgerät und marschierte 14 Kilometer bergab. In der Dorfschmiede von Sainte Marie de Campan bat er einen Dorfjungen, den Blasebalg zu betätigen. Als Christophe seine Gabel repariert hatte, war sein Malheur vier Stunden her. Da eröffneten ihm die anwesenden Rennkommissare, dass wegen der Inanspruchnahme fremder Hilfe bei der Reparatur eine Strafminute verhängt wird: Paragraph 2, Artikel 45 des Tour-Statuts. Christophe war ziemlich wütend, fuhr aber weiter und beendete die Rundfahrt als Siebter.

 

1927

Der zweifache Toursieger Ottavio Bottecchia, der aus einer armen Bauernfamilie stammte und in Italien als »Campionissimo« umjubelt wurde, nutzte seine Populariät auf eine eher unübliche Art. In Interviews äußerte er sich engagiert zu sozialpolitischen Themen und kritisierte die Ausbeutung der Armen und Lohnabhängigen. Er galt als überzeugter Sozialist und Antifaschist, der in Werkmanagern die Handlanger des Kapitals sah und seine Sponsoren auch schon einmal als Ausbeuter bezeichnete.

Bottecchia starb im Juni 1927. Die Umstände seines Todes wurden nie geklärt. Die bis heute populärste – aber wohl falsche – Version besagt, der Champion sei vom wütenden Besitzer eines Weinbergs erschlagen worden, als er sich in einer Trainingspause einige Trauben zur Erfrischung pflückte. Walter Lemke, ein exzellenter Kenner des italienischen Radsports weist in seiner Fausto-Coppi-Biographie eine andere Richtung: Bottecchia, so Lemke unter Verweis auf einige Indizien, sei »mit großer Wahrscheinlichkeit 1927 von den Faschisten«, also Gefolgsleuten des italienischen Diktators Mussolini, ermordet worden.

 

1930

Die Rundfahrt steckte in einer Krise. Etappensiege und andere Ergebnisse beruhten offensichtlich häufig auf Arrangements und Absprachen, die nach nationalen Gesichtspunkten oder nach den taktischen Interessen der Fabrikteams getroffen wurden. Desgrange konnte den Verlust an Attraktivität direkt an der sinkenden Auflage seiner Zeitung L’Auto ablesen. Er reagierte, indem er die mächtige Fahrradindustrie faktisch ausschaltete. Vor dem Fahrerfeld bewegte sich erstmals die bis heute übliche Werbekolonne über die Landstraßen, ein Pulk von Autos, Lastwagen und Motorrädern, die den Zuschauern Reklame aus allen erdenklichen Wirtschaftsbranchen präsentieren.

Obwohl Desgrange für die Teilnahme an dieser Kolonne ansehnliche Summen forderte, meldeten sich genügend Interessenten, u. a. Persil und Pernod. Mit dieser Idee, die beim Publikum gut ankam, erschloss Desgrange neue Finanzquellen und machte sich von der Fahrradindustrie unabhängig. Entsprechend starteten 1930 alle Teilnehmer auf einheitlich lackierten gelben Rennmaschinen, und die Teilnahmekosten wurden von den Organisatoren getragen. Anstelle der Fabrikteams waren nun 32 Jahre lang Nationalmannschaften bei der Tour unterwegs.

 

1948

Der souverän in Gelb fahrende Italiener Gino Bartali zeigte in den Alpen eine glänzende Vorstellung, als Europa von der Nachricht getroffen wurde, dass italienische Rechtsextremisten ein Attentat auf den populären Chef der Kommunistischen Partei, Palmiro Togliatti, verübt hatten; Italien, so wurde allgemein vermutet, stehe nun vor einem großen politischen Aufstand.

Es gibt nicht wenige italienische Historiker, die Bartalis Sieg bei der diesjährigen Tour de France und besonders die Tatsache, dass er am Tage dieses fehlgeschlagenen Mordversuches eine Etappe gewann, als ausschlaggebend für die Verhinderung einer ernsthaften Revolte werten. Italiens damaliger Staatspräsident, Luigi Enaudi, würdigte die Triumphfahrt Bartalis und ihre durchschlagende Wirkung mit der Feststellung: »Bartali hat die Italiener von der Idee der Revolution abgelenkt.«

 

1950

Am Col d’Aspin kam es zu einem Dreikampf zwischen den Mannschaften Italiens, Frankreichs und der Schweiz. Auf dem Gipfel blockierte ein Fotoreporter die ohnehin schmale Fahrspur in der Zuschauermenge, und den dadurch erzwungenen Stopp nutzte ein entfesselter nationalistischer Mob, um Bartali vom Rennrad zu zerren und ihn mit Stöcken und Fäusten zu malträtieren. Irgendwie entkam Bartali in Begleitung des Franzosen Robic dem Chaos und schaffte es auch noch, die Etappe in St. Gaudens zu gewinnen. Von den französischen Zuschauern im Zielort wurde der Sieger gnadenlos ausgepfiffen.

Deshalb pfiffen die Italiener nun auf die Tour de France und reisten, empört und in berechtigter Sorge um ihre körperliche Unversehrtheit, mit ihren beiden Mannschaften ab. Nach dem Ausstieg des Belgiers Maes 1937 hatten es übergeschnappte Nationalisten nun zum zweiten Mal in der Tourgeschichte erreicht, dass der Führende des Klassements aufgab.

 

1962

Markenteams anstelle der Nationalmannschaften: Diese wohl bedeutsamste Neuerung in ihrer Nachkriegsgeschichte gab der Tour de France ein neues Gesicht. Unabhängig davon, ob sie in der Fahrradindustrie oder in anderen Branchen zu Hause waren, konnten nun einzelne Firmen oder Gruppen von Unternehmen ihre Teams selbst zusammenstellen. Damit wurde das wichtigste Radrennen der Welt nochmals auch wirtschaftlich stark aufgewertet. Die Veranstalter der Tour verfügten nun über einen weit besseren Zugang zu lukrativen Einnahmequellen, und gleichzeitig wurde die Rundfahrt als Plattform für Werbung, PR und Sponsoring deutlich attraktiver.

Auch von der sportlichen Seite her versprach die Umstellung auf Werksmannschaften einen echten Gewinn. Hatten sich bisher nicht selten Spitzenleute, die gezwungenermaßen gemeinsam in einem Nationalteam unterwegs waren, gegenseitig neutralisiert, bestand nun eher die Möglichkeit, gezielt Mannschaften mit breit gefächerten sportlichen Möglichkeiten und funktionierenden Hierarchien aufzubauen.

 

1987

Noch vor dem diesjährigen Start verlor die Tour de France eine ihrer wichtigsten Figuren: Félix Lévitan, der neben Jacques Goddet 25 Jahre lang das Rennen als Direktor geformt hatte, wurde gefeuert. Im Gegensatz zu Goddet galt Lévitan als knallharter und nüchterner Geschäftsmann, der die Attraktivität der Tour durch immer brutalere Anforderungen an die Sportler steigern wollte. Der Spiegel schrieb zu seiner Entlassung: »Außerdem ist Lévitan Jude – und der Antisemitismus unter Frankreichs Sportorganisatoren noch immer weit verbreitet.«

Ein Anlass für den Rausschmiss waren 838.000 Dollar Verlust, entstanden durch eigenmächtige Absprachen Lévitans mit einem TV-Vermarkter. Offiziell begründete die Société du Tour de France die Entmachtung des 76jährigen mit »schwer wiegenden Differenzen in der strategischen Orientierung«; gemeint waren damit u. a. Pläne Lévitans, aus der Rundfahrt eine »Tour du Monde« zu machen und den Tross in Zukunft um den ganzen Erdball zu schicken.

 

Alle Texte aus: Ralf Schröder/Hubert Dahlkamp: Nicht alle Helden tragen Gelb. Die Geschichte der Tour der France. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2003, 382 S., 24,90 Euro. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zum Nachdruck.