Moderner Zehenkampf

Beim Toe-Wrestling feiert das United Kingdom die größten Erfolge. Nur olympisch ist das Würgen der dicken Daumenzehen noch nicht. von elke wittich

Und die neuen Weltmeister kommen – aus Großbritannien. Wann immer eine World Championship zu Ehren der neuen Titelträger ausschließlich mit dem Abspielen von »God save the Queen« endet, kann man sicher sein, dass gerade die Toe-Wrestler ihren Saison-Höhepunkt gefeiert haben.

Die Sportart wurde schließlich genau deswegen erfunden: Anfang der siebziger Jahre müssen sich die britischen Athleten, gleich in welchem Metier, wohl ganz besonders dumm angestellt haben, denn der Inhaber des Pubs »Ye Olde Royal Oak Inn« in Wetton, Derbyshire, hatte definitiv genug. Großbritannien, so dachte er sich, vermutlich an einem dieser ganz besonders langweiligen Tage, an dem er wirklich alle Gläser schon zum dritten Mal poliert hatte und auch die Bestände bereits mehrmals durchgegangen war, braucht ganz dringend eine neue Sportart. Eine, in der Briten derart dominant sein können, dass endlich der ganze Ärger um verpasste Torchancen und geplatzte Medaillenträume ein Ende nehmen wird.

Der Wirt George Burgess, im Nebenberuf Publizist, brauchte nicht lange, bis er das gewinnversprechende neue Genre kreiert hatte: Toe-Wrestling, eine Art Zehen-Ringkampf. Unter dem Motto »There’s no arm in toe-wrestling«, treten jeweils zwei Sportler gegeneinander an. Auf einem Barhocker sitzend legen sie ihren rechten Fuß auf das »Toedium«, eine Art Holzgestell mit Ablagefläche sowohl für den Ballen als auch die Ferse. Auf das Kommando »Toes away!« versuchen sie nun, ihre dicken Zehen ineinanderzuhaken und den Gegner so weit niederzuringen, dass sein äußerer Fuß die Seitenwand des Toediums berührt.

Im zweiten Durchgang ist dann die linke große Zehe dran, steht es nach diesem Kampf unentschieden, folgt der »Toe Break«, der erneut mit rechts ausgefochten wird. Aufgeben ist übrigens ausdrücklich erlaubt: Wer genug davon hat, dass sein dicker Daumenzeh gewürgt und gezerrt und verbogen wird, der muss nur »Toe much!« rufen, und schon wird das Match abgebrochen.

Gemischt-geschlechtliche Wettkämpfe sind übrigens nicht erlaubt, »aufgrund möglicher Myxomatoesis-Übertragung«, heißt es überzeugend bei Burgess. Innerhalb kürzester Zeit stellten Wirt und Gäste des »Ye Olde Royal Oak Inn« weitere Regeln auf. So wurden zum Beispiel auch die Befugnisse des Schiedsrichters genau definiert: In wirklich jedem Streitfall sind seine Entscheidungen endgültig und nicht anfechtbar, so etwas wie eine übergeordnete Beschwerdeinstanz gibt es nicht.

Vielleicht wollten die Zehen-Ringkämpfer mit dieser gewährten Allmacht den Referee auch nur für die Stinkeseiten seines Amts entschädigen. Vor Beginn eines jeden Wettkampfes muss sich der Unparteiische nämlich vom ordnungsgemäßen Zustand der antretenden Füße überzeugen. Die, so will es die Regel, müssen frisch gewaschen sein und dürfen keinerlei Geruch verströmen. Zudem ist es die Aufgabe des Referees, besonders die Zehenzwischenräume genau zu überpüfen, denn wer an Fußpilz leidet, darf laut Satzung nicht antreten.

Auch klare Dopingregeln gibt es. Verboten ist eigentlich jede leistungsfördernde Stimulanz, »außer Substanzen, die es im ›Ye Olde Royal Oak Inn‹ zu kaufen gibt, also Alkohol und Tabak«.

Derart geregelt, machten sich die Zehenkämpfer in den frühen Siebzigern daran, für Großbritannien Erfolg um Erfolg zu erringen. Im Jahr 1977, so weiß es die Legende, erlitt die neue Sportart jedoch einen empfindlichen Rückschlag: Ein zufällig zu Besuch bei einem der Pub-Gäste weilender kanadischer Tourist entschied sich, an dem lustigen neuen Wettbewerb teilzunehmen – und musste prompt zum Champion gekürt werden, nachdem er alle britischen Titelaspiranten in Grund und Boden gewrestelt hatte.

Die Ringer aus dem Mutterland der zehischen Sportart verfielen daraufhin in eine derart tiefe Depression, wie sie wohl nur mit der verglichen werden kann, die in Ungarn 1954 nach der Finalniederlage gegen die deutsche Fußball-Nationalmannschaft ausgebrochen war. Während die ungarischen Kicker seither nie wieder nennenswerte Erfolge feiern konnten, blieb die britsche Schwermut jedoch begrenzt: Bereits 16 Jahre nach dem nationalen Trauma wurde 1993 erneut eine Meisterschaft ausgerichtet. George Burgess hatte im Jahr 1990 nämlich zufällig das Regelbuch wieder gefunden und entschieden, dass die Sache jetzt unbedingt professionell angegangen werden musste. Umgehend meldete er Toe-Wrestling als internationale Sportart an. Die World Toe Wrestling Organisation wurde gegründet. Eine eigene Website, www.worldtoewrestling.org, soll der Rekrutierung neuer Leistungssportler dienen, zahlreiche Fanseiten verbreiten darüber hinaus alles über Kunst und Philosophie des modernen Zehenkampfs.

Wenn es nach dem Willen des Dachverbandes der Fußkämpfer gegangen wäre, dann wären bereits im Jahr 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta Toe-Wrestler am Start gewesen. Man habe einen Antrag an das IOC gestellt, die Sportart künftig ins Programm aufzunehmen, aber er sei leider abgeschmettert worden, heißt es dazu. »Die Funktionäre konnten sich anscheinend nicht einigen, ob Toe-Wrestling nun eine Sommer- oder Wintersportart ist.« Ein bereits eigens kreierter Olympia-Dress-Prototyp für die Teilnehmer wurde daraufhin im »Ye Olde Royal Oak Inn« zugunsten der Derby Children’s Friendship Group geschaffen, die Ferienreisen für sozial benachteiligte Kinder organisiert. Auch das Eintrittsgeld der WM-Zuschauer geht traditionell an diesen Fonds.

In diesem Jahr konnten nun, trotz weiterhin fehlender Anerkennung durch das IOC, die zehnten Weltmeisterschaften nach neuer Zeitrechnung durchgeführt werden.

Erstmals seien auch viele Ausländer am Start gewesen, vermelden britische Presseagenturen, die jedoch »durchweg nicht ins Finale kamen, meist war schon in der Vorrunde Schluss«. Die US-Amerikaner, Kanadier und Deutschen hätten sich »zu dämlich angestellt« und seien »um mehr als Zehenbreite unterlegen« gewesen.

Vor den Augen der Weltpresse konnte schließlich der Sieger gekürt werden. Der ausnahmsweise kein alter Bekannter ist. Bisher gab es bei den Männern erst fünf verschiedene Weltmeister, da Alan »Nasty« Nash so etwas wie der Michael Schumacher seiner Sportart ist. In diesem Jahr sollte es für den fünfmaligen Champion jedoch nicht ganz reichen. Knapp unterlag er im Finale dem bis dato völlig erfolglosen langjährigen Toe-Wrestler Paul Beech, der im Matrix-Outfit unter dem Kampfnamen »Toe-Minator« antrat.

Bei den Frauen gewann Nathalie Cartwright, und entthronte damit sensationell die viermalige Weltmeisterin Karen »Kamikaze« Davies.

Einträchtig gaben die Finalteilnehmer dann jedoch Statesments ab, die richtigen Fans der Sportart in der Seele weh getan haben müssten. Erstmals seien »sehr unerfreuliche Verhaltensweisen« einiger Zuschauer festgestellt worden, die durch zahlreiche unqualifizierte Zwischenrufe aufgefallen seien, erklärten sie. »Es gab zudem einen sehr unschönen Zwischenfall, eine Frau wurde von einem betrunkenen Fan angegrabscht!«

Im nächsten Jahr hoffe man daher wieder auf das bis dato traditionell gute Benehmen der Supporter, denn sonst »müssen andere Seiten aufgezogen werden«.

Toe-Wrestling, eine Sportart am Scheideweg. Quo vadis, Zehen-Ringkampf?