Rote Zonen rund um Europa

Robust, präventiv und global: Die EU hat auf ihrem Gipfeltreffen in Thessaloniki den Entwurf einer gemeinsamen Sicherheitsdoktrin vorgelegt. von hito steyrl, porto karras

Zu anderen Zeiten liegen am Strand von Porto Karras bleiche Touristen in der Sonne, und schwäbische oder französische Kleinfamilien dominieren den großzügigen Hotelkomplex. Doch von Urlaubsstimmung war in der vergangenen Woche nicht viel zu spüren. Aus Furcht vor Ausschreitungen hatten die griechischen Behörden den EU-Gipfel in die etwa 120 Kilometer vor Thessaloniki gelegene Ferienanlage des idyllischen Badeorts verlegt.

Dort tagten am vergangenen Freitag und Samstag die Staats- und Regierungschefs von 25 Staaten sowie 600 Diplomaten und 2 500 Journalisten inmitten einer surrealen Szenerie. Vor der Insel kreuzten Kriegsschiffe, am Strand versperrte ein riesiges Polizeiaufgebot den zum Auftakt des Gipfels angereisten Demonstranten den Weg. Während einige verirrte Touristen orientierungslos in Tränengasschwaden umherliefen, nutzten zahlreiche Gipfelgegner die Gelegenheit zum Baden. Im Hintergrund blockierten wuchtige Container, die ausgerechnet mit dem Firmennamen »Capital« versehen waren, den Zugang zu der Hotelanlage.

Während es draußen zuging wie in einem Fellini-Film, wurde drinnen fleißig an der Neuformierung Europas gearbeitet. So wurde der Verfassungsentwurf, der vom Konvent unter Valéry Giscard d’Estaing vorgelegt worden war, vom europäischen Rat fast ohne Einspruch als »gute Grundlage« für das weitere Verfahren anerkannt. Unmittelbar nach der EU-Erweiterung um die zehn Beitrittsstaaten soll der Verfassungsvertrag im Mai des nächsten Jahres unterzeichnet werden – allerdings nicht in Rom, wie ursprünglich vorgesehen. Dem italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi, der im kommenden Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft innehat, soll die Gelegenheit zur persönlichen Profilierung genommen werden.

Vor allem aber ging es in der Agenda des Gipfels um den Entwurf einer neuen »europäischen Sicherheitsstrategie«. In Zukunft müsse man davon ausgehen, erklärte der EU-Beauftragte für die Außen- und Sicherheitspolitik, Javier Solana, dass die »erste Linie der Verteidigung« nicht mehr auf europäischem Territorium liege. Deshalb sei es notwendig, eine »Sicherheitszone« außerhalb der Mitgliedsländer zu schaffen. Notfalls mit Hilfe von »robusten Interventionen«, die nach Meinung von Solana auch »präventiven« Charakter aufweisen können, solle die EU künftig gegen Terrorismus, Schurkenstaaten und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu Felde ziehen. Bis zum nächsten Gipfeltreffen im Dezember soll Solana nun die globalen Sicherheitsinteressen der EU außerhalb Europas formulieren.

Gleichzeitig wird auch Europas innere Sicherheit verstärkt, vor allem im Bereich Asyl. Der britische Premierminister Tony Blair zog zwar seinen umstrittenen Vorschlag für die Errichtung von Flüchtlingslagern außerhalb der Union zurück. Dafür beschlossen die Regierungschefs, die finanziellen Aufwendungen für Abschiebung und Grenzschutz um 390 Millionen Euro zu erhöhen.

Blair hat jedoch seinen Plan, exterritoriale Lager einzurichten, nicht ganz aufgegeben. Großbritannien wird gemeinsam mit Dänemark, Österreich und den Niederlanden ein eigenes »Pilotprojekt« entwickeln, nach Aussage der österreichischen Außenministerin Ferrero-Waldner so genannte »Anhaltelager«. Der von ihr fast euphorisch verwendete Begriff besitzt jedoch eine interessante Vorgeschichte. Damit wurden in den dreißiger Jahren in Österreich die Strafcamps für die Gegner der austrofaschistischen Regierung von Engelbert Dollfuss bezeichnet.

Während sich die EU-Regierungschefs ausführlich mit der Frage »sicherer Grenzen« beschäftigten, reisten die Vertreter der westlichen Balkanstaaten mit der Hoffnung an, zumindest eine vage Perspektive für die Aufnahme ihrer Länder zu erhalten. Bereits vor drei Jahren hatte sich die Union für einen Beitritt dieser Staaten ausgesprochen, freilich ohne konkrete Schritte zu benennen. Doch auch in Thessaloniki wurde deutlich, dass in der EU kein gesteigertes Interesse an einer Integration von Serbien-Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Albanien besteht. Nur im Falle von Kroatien wurde die Bereitschaft zu Beitrittsverhandlungen signalisiert.

Zunächst aber sollen die Staaten des westlichen Balkan die organisierte Kriminalität und die Korruption bekämpfen, ihre Wirtschaft reformieren und Rechtstaatlichkeit durchsetzen. Und natürlich ihre Flüchtlinge zurücknehmen. So wird den Balkanstaaten zwar weiterhin versprochen, dass der Beitrittsprozess »unumkehrbar« sei. Faktisch bleibt ihr Status aber bis auf weiteres ungeklärt. Als einziges konkretes Zugeständnis will die Union ihre Finanzhilfe in den nächsten Jahren um 200 Millionen Euro aufstocken. Dafür verpflichteten sich die fünf Länder, Kriegsverbrecher aus dem ehemaligen Jugoslawien vor Gericht zu stellen.

Während im streng abgeschirmten Hotel weiter beraten wurde, schauten die Journalisten derweil auf Großbildschirmen den rituellen Krawallen zu, die sich rund um die von 16 000 Polizisten und Soldaten abgeriegelte rote Zone abspielten. Die Ausschreitungen wurden von auf Bergkuppen installierten Kameras wie ein gewöhnliches Fußballmatch übertragen und riefen unter den Medienvertretern eher sportliches Interesse hervor.

Während in Porto Karras die ersten Gipfelteilnehmer bereits wieder abreisten, zogen in Thessaloniki am vergangenen Samstag zur gleichen Zeit rund 60 000 Demonstranten vor das US-Konsulat. Einige Stunden später war das Stadtzentrum in dicke Wolken aus Rauch und Tränengas gehüllt. Dutzende Geschäfte wurden demoliert, einige Autos in Brand gesetzt. Rund hundert Demonstranten wurden festgenommen, gegen 29 von ihnen ergingen Haftbefehle. Bereits am vergangenen Donnerstag hatten rund 20 000 Demonstranten gegen die Flüchtlingspolitik der EU protestiert.

Die Bilder von brennenden Barrikaden, die seit einigen Jahren jedes EU-Treffen begleiten, wird es vermutlich aber in dieser Weise nicht mehr geben. Der Gipfel in Porto Karras war das letzte derartige Treffen in einem Mitgliedsland. Künftig finden die Europäischen Räte stets in Brüssel statt.