Global, National, Kapital

Leben wir schon im Empire? Oder noch in der Globalisierung? Oder ist das Neue das Alte und heißt Imperialismus? von rainer trampert

Mit der »Globalisierung« sollen der Imperialismus sich verflüchtigt und neue Kapitalströme die Nationalstaaten in einflusslose Gebilde verwandelt haben. Darin sind sich die Globalisierungstheoretiker einig. Nur, dass sich einige darüber freuen, während die meisten diesen Zustand beklagen. Zu den Fröhlichen gehören Antonio Negri und Michael Hardt, die in ihrem Buch »Empire« schreiben: Das neue Paradigma »ist definiert durch den endgültigen Niedergang der souveränen Nationalstaaten«. Mit ihnen verschwinden Kolonialismus und Imperialismus sowie »antagonistische Konflikte zwischen staatlichen Akteuren«. Die »Werte, auf die alles ausgerichtet ist«, heißen »Frieden, Gleichgewicht und die Beendigung von Konflikten«.

Ein Wunder ist geschehen und man möchte dem Empire viel Glück wünschen, fragt sich aber: Warum werden im Zeitalter des Friedens so viele Länder bombardiert? Warum gibt es in einer Epoche ohne antagonistische Konflikte eine »Achse des Bösen«? Und sind die USA wirklich ein ohnmächtiger Staat? Da geschieht ein zweites Wunder: Das amerikanische Militär mutiert zum Friedenspolizisten der Uno.

Für Furore sorgt »Empire«, weil es mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat und die Welt bis zur Blödheit schönredet. Die Verhüllung der Realität hat mit der historischen Niederlage linker Befreiungsphilosophie zu tun. »In der Phase, in der das Subjekt vor der entfremdeten Übermacht der Dinge abdankt, zeigt seine Bereitschaft, Positives oder Schönes überall zu gewahren, Resignation«, schrieb Theodor W. Adorno. Der Resignierte phantasiert Frieden und Gleichgewicht oder freut sich im Bombenhagel über die schöne Zivilisation.

Was Negri und Hardt begrüßen, ist für die meisten Globalisierungsinterpreten das Böse. In der taz sagt ein Attac-Sprecher: »Die Globalisierung hat dazu geführt, dass die Unternehmen sich am Share-Holder-Value orientieren (…) Die neoliberale Globalisierung hat den Weg geöffnet, dass Unternehmen sich überall auf der Welt einkaufen können (…) Der Krieg ist die Fortsetzung der neoliberalen Globalisierungsstrategie mit Waffen.«

Nun, die beiden Weltkriege in der definitorisch unglobalen Epoche waren nicht von schlechten Eltern. Auch die Kriege in Algerien oder Vietnam in der keynesianischen Epoche hatten es in sich. Und was Profit ist, wussten deutsche Konzerne schon bei ihrer Gründung. Es wird Kalkül sein, das Böse immer aus Amerika kommen zu lassen, ob Share-Holder-Value oder vagabundierende Finanzen aus New York, wo Eingeweihte des Projektionswahns Juden als Drahtzieher vermuten.

Auch in anderer Hinsicht enthält die Globalisierungsphrase die Hinwendung zur eigenen Nation. Sie enthebt den Staat von der Verantwortung für seine Taten. Die Regierung sagt: Wir müssen euch nehmen, was frühere Generationen erkämpft haben, weil eine Globalisierung über uns gekommen ist. Globalisierer bestätigen: Der Staat ist von einer heimtückischen Globalisierung entmachtet worden.

Sofern Globalisierung Expansion und Eroberung meint, war sie immer. Ohne die kolonialistischen Plünderungszüge hätte es keinen Kapitalismus gegeben. Bereits vor 150 Jahren exportierte das britische Imperium vierzig Prozent seines Kapitals ins Ausland. Der Finanzmarkt war 1929 so global, dass alle Börsen der Welt ohne Nanosekunden schnelle Transaktionen an einem Schwarzen Freitag zusammenkrachten.

Joachim Hirsch bedauert, dass die »westfälische Ordnung, die das moderne Staatensystem bis in das 20. Jahrhundert geprägt hatte«, heute zerstört werde. Doch die Staatensouveränität wurde in den letzten 350 Jahren derart missachtet, dass der Weltatlas jedes Jahr neu gedruckt werden musste. Man traf sich zu einer Konferenz, zog zwei Striche auf der Landkarte, schon war der Irak entstanden. Soll Polen sich nach drei Teilungen über seine souveräne Vergangenheit erfreuen?

Die These ist wissenschaftlich Unsinn, und politisch verbietet sich die romantische Begräbnisrede auf frühere Nationalstaaten. Dahinter steht die Gleichung: Nationalstaat macht Reformen, Globalisierung revidiert sie. Wie Hirsch bedauern einige den Verlust der »sozialstaatlichen keynesianischen Strukturen der Nachkriegszeit«. Der Trauer liegt ein kolossales Missverständnis zugrunde. Nicht eine Wirtschaftstheorie, sondern das kämpfende Subjekt hat dem darwinistischen System in Boomzeiten das Soziale abgerungen, das dem nichtkämpfenden Subjekt wieder abgenommen wird. Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist Ergebnis eines sechswöchigen Streiks.

Der Kapitalismus benötigt für seine Expansion sowie für die Ordnung im Inneren einen starken Heimatstaat. Seit es Kapitalismus gibt, kümmern sich die reichen Staaten um das expansive Kapital ihres Landes. Sie verfolgen damit das eigene Interesse, so viel Profit wie möglich aus der Welt in das eigene Staatsgebiet zu lenken.

Marx entwickelte die Theorie vom »tendenziellen Fall der Profitrate« als Folge der wachsenden Menge dinglichen Kapitals im Verhältnis zur lebendigen Arbeit. Mit dem Anwachsen des Kapitalberges sinkt die Profitrate. Der Raub von Mehrwertmasse und Grundrente aus der Welt, der dort Hunger, Tod und ökologische Verwüstung hinterlässt, kompensiert den sinkenden Profit im Lande. Sogar der Blick in den Duden hilft weiter: Imperialismus ist »die Bestrebung einer Großmacht, ihren politischen, militärischen und wirtschaftlichen Macht- und Einflussbereich ständig auszudehnen«. Das trifft heute zweifellos zu. Wir leben nicht in einer diffus globalen, sondern in einer imperialistischen Epoche.

Auch Blöcke wie die Europäische Union heben die nationalen Interessen nicht auf. In ihren expansiven Interessen driften die EU-Staaten auseinander. Einig sind sie sich beim Stabilitätspakt, im Abbau von Handelsschranken im Binnenmarkt, der eben kein globaler ist. Um die EU wird eine Mauer errichtet, nicht nur gegen Flüchtlinge, auch gegen Waren von außen.

Auch in ihrem Zentrum benötigen die Konzerne einen starken Staat. Die Reproduktion des Kapitals geschieht überwiegend national. Unter den weltweit 200 größten Konzernen stammen 70 aus den USA. Diese 70 realisieren Dreiviertel ihres Umsatzes, fast 80 Prozent ihrer Investitionen und sogar 90 Prozent ihrer Forschung in den USA. Auch die große deutsche Exportwirtschaft hat bekanntlich ihren Sitz zu Hause.

Der Staat muss den Verzehr von Profit durch Menschen minimieren, die selber keinen Mehrwert produzieren. Für den Kapitalismus wäre die profitabelste Lösung der Tod der Rentner und Arbeitslosen. Dieser Leichengeruch schwebt über der Agenda 2010. Nur ein starker Staat kann das innenpolitisch durchsetzen. Wer meint, das zeige die Ohnmacht des Staates, begreift nicht, dass der Akteur des Staates die herrschende Klasse ist.

Die staatliche Nachfrage dient für den Verbrauch und dazu, unproduktive Sektoren am Leben zu halten. Die Werte dafür kann er nur aus profitablen Sektoren abschöpfen, die dort nicht akkumuliert werden. Diese Umschichtung senkt die Profitrate des Gesamtkapitals. Als Folge nimmt auch der Staat weniger ein. Der Keynesianismus erschwert dem Kapitalismus die laufende Selbstreinigung durch die Ausmerzung des Unproduktiven. Er verschiebt die Krise und türmt sie auf, bis sie sich mit einem größeren Knall entlädt.

Das ist heute der Fall und fällt zusammen mit der Regression zum klassischen Imperialismus. Seit der Westen durch seinen Sieg über den Sowjetblock seine gemeinsame Klammer verloren hat, geht man wieder aufeinander los. Deshalb, nicht weil Politiker sich im Ton vergreifen, erleben wir den Rückfall in den Nationalismus, der nun »Unilateralismus« heißt. Was den Amerikanern angelastet wird, gilt auch für Staaten wie Deutschland, das seit seiner vollen Souveränität an einem Imperium arbeitet. Überall wurde nach 1991 die Militärdoktrin auf die nationale Sicherung von Märkten, Rohstoffen, Transportrouten auf dem Globus und die Beseitigung von renitenten Staaten umgeschrieben.

Der neue Kalte Krieg hat begonnen und wird schon bis zu großen Entscheidungsschlachten gedacht. Henry Kissinger schreibt, dass »der Wettstreit um den Zugang zum Öl und seine Routen« die Westallianz wieder »in nationale politische Wege und Ziele verwandeln« könnte. Und mit Blick auf China kündigt er an: »Wenn in Asien eine Hegemonie droht, würde Amerika ebenso einschreiten wie im Zweiten Weltkrieg gegen Japan.«

Das Aufeinanderprallen der Mächte wird man sich zunächst in Form von Stellvertreterkriegen vorstellen müssen. Wir sollten aber die Phantasie aufbringen, uns vorzustellen, was geschehen könnte, wenn der Kapitalismus in eine wirkliche Weltkrise geriete. Marx schrieb: »Solange alles gut geht, agiert die Konkurrenz (…) als praktische Brüderschaft. Sobald es sich aber nicht mehr um Teilung des Profits handelt, sondern um die Teilung des Verlustes, sucht jeder so viel wie möglich (…) dem andern auf den Hals zu schieben (…) und die Konkurrenz verwandelt sich dann in einen Kampf der feindlichen Brüder.«

Gekürzte und redaktionell bearbeitete Fassung eines Vortrages, den der Autor am 24. Mai 2003 auf dem Kongress »Spiel ohne Grenzen« in München hielt.