Die Straße reagiert

Falls die französische Regierung im Rentenstreit nicht nachgibt, wollen die Gewerkschaften landesweit den Transport lahm legen. von bernhard schmid, paris

Die Straße regiert nicht.« Dieser Satz von Premierminister Jean-Pierre Raffarin gehört derzeit zu seinen meistzitierten Floskeln in Frankreich. Ursprünglich wollte er damit seine Gegner einschüchtern, als sich Anfang Mai die ersten Proteste gegen die Rentenpläne der neokonservativen Regierung anbahnten.

Am Sonntag aber schmückten ironische Abwandlungen des Satzes zahlreiche Transparente und Schilder. Der vermeintliche Autoritätsbeweis hat sich in eine Herausforderung an die Regierung verwandelt. 750 000 Menschen demonstrierten nach Schätzungen französischer Radiosender an diesem Tag. Teilweise waren die Demonstranten über Nacht angereist: aus Bordeaux und Dax, Montpellier und Perpignan, Marseille oder Toulon.

Die aus dem öffentlichen Dienst waren deutlich in der Überzahl, aber auch die Beschäftigten des Chemiekonzerns Aventis, von Peugeot im elsässischen Mulhouse oder der Metallindustrie waren vertreten. Über ein Drittel der Demonstranten allerdings stellten die Lehrer, die derzeit die am stärksten mobilisierte Berufsgruppe darstellen. Die Ende März begonnene Streikwelle im Bildungssektor hatte Ende vergangener Woche 3 500 Schulen erfasst. Die Streikkoordination führte auch die Pariser Demo an unter der Parole: »Es gibt nichts zu verhandeln.« Eine Devise, die nicht allen Gewerkschaften passt

Ein Demonstrant hatte auf dem Schild seiner Gewerkschaftsorganisation, der CFDT, das D für »demokratisch« durchgestrichen und durch »wütend» ersetzt. Die Spitze des sozialdemokratischen Dachverbands hatte am 15. Mai der Rentenreform zugestimmt. Doch viele Mitglieder der CFDT sind verbittert und denken über einen Austritt nach; in der Demonstration vom Sonntag waren mehrere Branchenverbände der Gewerkschaft vertreten.

Mit dem Erfolg vom Wochenende konnte vor allem der bis vor fünf Jahren der französischen KP nahe stehende Gewerkschaftsbund CGT zunächst seinen Aktionskalender durchsetzen. Auch wenn es wegen der anstehenden Mobilisierungen auch innerhalb der CGT in den letzten zwei Wochen heftige Konflikte gegeben hatte.

»Ich vertrete hier nur die CGT-Basis bei den Kulturbeschäftigten und auf keinen Fall die gesamte CGT«, erklärte ein Delegierter der streikenden Museumsangestellten am vergangenen Freitag auf einer Versammlung und fragte besorgt: »Was macht die Gewerkschaftsführung mit diesem fantastischen Mobilisierungspotenzial?« Wie in anderen Pariser Stadtbezirken auch trafen sich im 19. Arrondissement die Vertreter verschiedener Bereiche, um Informationen auszutauschen und um sich zu koordinieren.

Im viel zu feierlich wirkenden großen Festsaal im historischen Bezirksrathaus kamen rund 200 Eisenbahner und Lehrer, Beschäftigte von Krankenhäusern oder Arbeitsämtern zusammen. Fast alle sind der Meinung, dass die Gewerkschaftsapparate die unkontrollierten Arbeitsniederlegungen der Bahn- und Metrobeschäftigten in der vorletzten Woche aufgehalten hatten.

Lucien sieht das anders. Der Redakteur der Gewerkschaftszeitung im Hauptquartier der CGT im Pariser Vorort Montreuil sagt: »Die harte Auseinandersetzung mit der Regierung steht noch bevor.« Weiter prognostiziert er: »Für den Fall, dass das Kabinett am Mittwoch den Gesetzentwurf zur Rente tatsächlich annimmt, hat die CGT bereits zum Streik aufgerufen, auch im Transportbereich. Das ist die stärkste Waffe in einem landesweiten sozialen Konflikt, weil dieser Streik das gesamte öffentliche und wirtschaftliche Leben beeinträchtigt. Wir dürfen dieses Mittel nicht vorzeitig verspielen und die Sympathie der Beschäftigten in der Privatwirtschaft verlieren, die einfach weniger streiken können – aus Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren.«

Das Argument des unzeitgemäßen Streiks wird von der Gewerkschaftsführung jedesmal bemüht, wenn ihr die soziale Dynamik zu entgleiten droht. Gleichzeitig kann die CGT kein Interesse daran haben, die aktuelle Mobilisierung abzubrechen, zumal sie dann im Falle einer Niederlage von den ungeduldigen Mitgliedern verantwortlich gemacht würde.

Daher schlug der Gewerkschaftsbund seit Anfang Mai einen Plan mit mehreren gestaffelten Aktionstagen vor. Die Bewegung soll auf diese Weise kanalisiert werden, während die CGT-Führung genügend Spielraum für die geforderten »echten Verhandlungen» mit der Regierung erhält.

Der radikalere Teil der Protestbewegung, auch ein Teil der CGT-Basis, fordert hingegen die bedingungslose Rücknahme des Regierungsentwurfs. Ein Generalstreik, wie ihn etwa die linksalternativen Basisgewerkschaften Sud, die Anarchosyndikalisten und die trotzkistische LCR fordern, steht jedoch nicht auf dem Programm. Die meisten Streikwilligen sind allerdings der Ansicht, dass die Verzögerung in den letzten zwei Wochen die Dynamik der Proteste nicht habe mindern können.

Das ist wohl richtig. Zumindest bislang ließ die Mobilisierung nicht nach. So demonstrierten im Laufe der vergangenen Woche mehrere hunderttausend Angestellte des öffentlichen Dienstes. Während des Aktionstages der Lehrer am vergangenen Donnerstag kam es anfänglich zu Rangeleien zwischen Gewerkschaften und der selbst organisierten Streikkoordination der Schulen. Es ging um die Frage, wer an der Spitze laufen solle. Letztlich setzte sich die Streikkoordination durch.

»Der Konflikt im Bildungsbereich hat sich seit den ersten Wochen teilweise an den Gewerkschaften vorbei entwickelt«, erzählt Eric, Lehrer in der Trabantenstadt La Courneuve. »Die Koordinierung ist bei diesem Konflikt zum ersten Mal hauptsächlich über das Internet gelaufen.«

An ein baldiges Ende der Auseinandersetzungen im Bildungssektor glauben Eric und seine Kollegen nicht. Hier geht es, neben den allgemeinen sozialen Rückschritten im öffentlichen Dienst, auch um ein Lieblingsprojekt der konservativen Regierung: die so genannte Dezentralisierung. (Jungle World, 22/03) Gerade die Lehrer in den sozialen Brennpunkten der Pariser Vorstädte befürchten, in ihren finanzschwachen Bezirken dann endgültig abgeschrieben zu sein.

Die Lehrerin Françoise von der linken Gewerkschaft Sud Education sieht jedoch noch einen weiteren, entscheidenden Grund dafür, warum die Dezentralisierung so schockierend wirkt. Denn im französischen Staatsaufbau sind die Regionen vor allem für die Wirtschaftsförderung zuständig und arbeiten daher eng mit den Handelskammern zusammen. »Wenn Raffarin also die Orientierungsberater und Psychologen an den Schulen auf die Regionen umverteilen will, kann man sich das Ergebnis vorstellen«, sagt Françoise. »Künftig sollen sie dann die Jugendlichen nach den Vorgaben der regionalen Wirtschaft auf die Schulzweige verteilen.«

Wahrscheinlich wird die Regierung schon in den nächsten Tagen dem streikenden Schulpersonal einige Zugeständnisse machen, um ihr wesentliches Anliegen, die Rentenreform, zu retten. Die Entlassung von Bildungsminister Luc Ferry scheint längst beschlossene Sache zu sein. Aber Eric und Françoise sind damit nicht zufrieden: »Das Ritual, einen Minister zu opfern, um eine Bewegung ruhig zu stellen, kennen wir zur Genüge.«

Zugleich soll die umstrittene Dezentralisierung möglicherweise verschoben werden. Nach Angaben von Regierungssprecher Jean-François Copé vielleicht um zwei Jahre. Das wäre aber kein Sieg der Protestierenden, auch wenn Premierminister Jean-Pierre Raffarin auf sein Vorhaben nicht verzichten kann. Schließlich hat er die Dezentralisierung seit einem Jahr zu seinem zentralen politischen Projekt dieser Legislaturperiode erhoben. Und der Bildungssektor sollte da nur den Anfang bilden.