Sold und Sühne

Das türkische Parlament hat gegen die Beihilfe zum Irakkrieg gestimmt. Der Truppenaufmarsch wird dennoch fortgesetzt. von deniz yücel

Dankbarkeit sieht anders aus. Und die Türkei hat Amerika viel zu verdanken, die Westbindung etwa oder den Militärputsch von 1980. Auch den Beitritt zur Europäischen Union, den fast alle gesellschaftlichen Kräfte in der Türkei wünschen, haben die USA immer wieder verlangt. Zuletzt hatte im vergangenen Oktober Washington von der deutschen Bundesregierung gefordert, sich bei dem EU-Erweiterungsgipfel von Kopenhagen zwecks der Verbesserung der deutsch-amerikanischen Beziehungen für die Türkei einzusetzen.

Zu den diplomatischen Diensten gesellten sich finanzielle. Im Dezember 1999 hat der Internationale Währungsfonds (IWF) mit der Türkei mehrere Kreditabkommen über ein Gesamtvolumen von rund 33 Milliarden US-Dollar unterzeichnet. Dass der IWF binnen kurzer Zeit Ankara mehrfach zur Seite sprang und das Land vor dem Staatsbankrott bewahrte, lag nicht zuletzt am Engagement der USA. Deren schützender Hand haben es die Türken bislang auch zu verdanken, dass der IWF ihnen gegenüber erheblich nachsichtiger ist als anderen Schuldnern. Argentinische Verhältnisse wollten die USA bei dem geostrategisch wichtigen Nato-Partner unbedingt verhindern.

Es wäre also für die Türkei an der Zeit gewesen, eine Gegenleistung zu erbringen. Genau die aber verweigerte das Parlament in Ankara, als es am ersten Märzwochenende dem Aufmarsch von 62 000 US-Soldaten in Südostanatolien und der Nutzung türkischer Luftwaffenstützpunkte und Seehäfen durch die USA zustimmen sollte. Dabei hatte sich die türkische Regierung zuvor zusätzliche Gegenleistungen erpokert: 15 Milliarden Dollar an direkter Unterstützung und Krediten, außerdem Erleichterung für türkische Textilexporte.

Die Entscheidung fiel knapp aus: 264 Abgeordnete votierten für den Regierungsantrag, 250 dagegen. Da sich einige Parlamentarier der Stimme enthielten, konnte die erforderliche Mehrheit nicht erreicht werden. Dass die einzige Opposition, die sozialdemokratische Republikanische Volkspartei, geschlossen dagegen stimmte, verwunderte weniger. Schließlich ist die parlamentarische Oppositionspartei auch dazu da, Stimmungen wiederzugeben, ohne dass dies Konsequenzen zeitigte. Unerwartet war hingegen, dass 96 Abgeordnete der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) ihrer Regierung nicht folgten. Zweifellos eine Niederlage für deren Vorsitzenden Recep Tayyip Erdogan, auch wenn er versuchte, sie in einen Erfolg der Demokratie umzudeuten.

So historisch bedeutsam, wie der Beschluss des Parlaments auf den ersten Blick erscheint, nämlich als Votum gegen die mächtigen Militärs, ist er in Wirklichkeit nicht. Seitdem der Nationale Sicherheitsrat 1982 in der Putschistenverfassung verankert wurde, um die Junta in den Parlamentarismus zu retten, hat keine Regierung und kein Parlament sich den »Empfehlungen« dieses Gremiums widersetzt. Auch diesmal nicht. Denn der Nationale Sicherheitsrat hatte bei seiner entscheidenden Sitzung am Tag vor der Parlamentsabstimmung auf eine »Empfehlung« verzichtet.

Schließlich würde ein Krieg gegen den Irak am Bosporus alles andere als gerne gesehen. Die Bevölkerung ist fast geschlossen dagegen, und auch der türkische Staat fürchtet seine politischen und ökonomischen Folgen. Der letzte Golfkrieg hatte erhebliche negative Auswirkungen auf die Wirtschaft, wegen des UN-Embargos gegen den Irak musste die Türkei Verluste von schätzungsweise 45 Milliarden US-Dollar hinnehmen. Unvergessen ist auch die halbe Million irakisch-kurdischer Flüchtlinge, die nach der Niederschlagung des Aufstandes im Nordirak über die Grenze kam. Eine Folge des Krieges war auch das machtpolitische Vakuum, das sich im Nordirak bildete, den die PKK zu ihrem Operationsgebiet ausbaute. Auch jetzt macht Ankara keinen Hehl daraus, die »territoriale Einheit des Irak« notfalls mit Truppengewalt zu garantieren. Daneben gibt es zwar das gierige Schielen auf die erdölreiche irakisch-kurdische Region um Mossul und Kirkuk. Aber davon hatte sich auch der damalige Staatspräsident Turgut Özal beim zweiten Golfkrieg 1991 leiten lassen, ohne dass aus der erhofften Ölrendite etwas geworden wäre.

Kalkuliert hatten die Generäle etwa so: Sie verzichten auf eine eindeutige Aussage und überlassen es der AKP, die unpopuläre Maßnahme zu propagieren. Die Staatsräson wäre gewahrt, die von ihnen skeptisch beäugten Islamisten aber hätten den Imageschaden zu tragen. Tatsächlich bemühte sich der AKP-Vorsitzende nach Kräften. »Diejenigen, die heute ›Nein zum Krieg‹ sagen, dächten morgen ganz anders, wenn ihre Löhne nur drei Tage zu spät ausgezahlt würden«, erklärte Erdogan. Dennoch wollte auch er die Last der Entscheidung nicht alleine tragen. Die AKP befreite ihre Abgeordneten vom Fraktionszwang – im Vertrauen darauf, dass auch hier Freiheit nichts anderes sein würde als die Einsicht in die Notwendigkeit.

Nach dem Scheitern des Plans meldete sich am Mittwoch der vergangenen Woche Generalstabschef Hilmi Özkök zu Wort und erklärte: »Hundert Prozent der Bevölkerung sind gegen den Krieg. Und am meisten sind wir Soldaten dagegen, da wir besser als irgendjemand sonst die gewalttätige Dimension des Krieges kennen.« Die Türkei könne aber nicht alleine einen Krieg verhindern und müsse sich im Falle eines Krieges »nicht zwischen gut und schlecht, sondern zwischen schlecht und noch schlechter« entscheiden.

»Wenn wir schon den Krieg nicht verhindern können, dann müssen wir von Anfang an dabei sein, um unsere nationalen Interessen zu wahren«, hatte auch Ministerpräsident Abdullah Gül stets betont.

Die Stellungnahme von General Özkök enthielt nichts substanziell Neues, genügte aber, um die rebellischen Abgeordneten zu beeindrucken. So sprach Parlamentspräsident Bülent Arinç von einer »vernünftigen Botschaft«, und Oppositionsführer Deniz Baykal lobte die »nützliche Erklärung«, die die Diskussion erhellt habe.

Kaum war das Machtwort der Generalität gesprochen, setzten die US-Truppen am Mittelmeerhafen die Entladung von Schiffen fort. Am Donnerstag zeigte der Fernsehsender NTV Bilder von Militärlastern, die voll beladen von Iskendurun in Richtung Südwesttürkei fuhren. Offiziell geschieht dies zum Zweck des vom Parlament genehmigten Ausbaus türkischer Häfen und Stützpunkte. Auch die türkische Armee verlegt Truppen. Am Wochenende berichtete NTV von einem Panzerkonvoi, der sich zu einem türkischen Stützpunkt auf nordirakischem Gebiet bewegte.

Der Truppenaufmarsch wird fortgesetzt. Und weder die amerikanisch-türkischen Beziehungen noch die militärischen Kriegsvorbereitungen dürften einen irreparablen Schaden erlitten haben. Ungleich schwerer wiegen die Konsequenzen für die AKP. »Erdogans Charisma ist zerkratzt«, titelte die islamistische Zeitung Milli Gazete und rief die rebellischen AKP-Abgeordneten dazu auf, die Partei zu verlassen und zum Altislamisten Necmettin Erbakan zurückzukehren.

Das Parlament in Ankara dürfte sich bald noch einmal mit der Stationierung amerikanischer Soldaten befassen. Und diesmal wird wohl Erdogan Gelegenheit bekommen, als Ministerpräsident selbst für die nationalen Interessen der Türkei zu werben. Am Wochenende wurde er bei einer Nachwahl in der Provinz Siirt zum Abgeordneten gewählt und erfüllt nun die Bedingung, um Regierungschef zu werden. Bei der anstehenden Rochade im Kabinett soll Gül ins Außenministerium wechseln, während der bisherige stellvertretende Regierungschef Ertugrul Yalçinbayir ausscheiden dürfte.

Der hatte sich zu seinem Nein bekannt und frohlockt: »Mit dieser Entscheidung hat die Türkei ihre Chancen in der EU erhöht.« Aber den Sold der Polizisten und Soldaten zahlt die Türkei nicht mit europäischer, sondern mit amerikanischer Hilfe. Und umsonst ist nichts.