Der Panikfaktor

Code Orange und die Friedensdemo

Es gibt Niederlagen, die verwandeln sich im Nachhinein in Siege. Tagelang hatte es ein erbittertes Gezerre zwischen Organisatoren der New Yorker Demonstration gegen den Irakkrieg und der Stadt über den Ablauf der Veranstaltung gegeben. Die Organisatoren wollten vor dem UN-Gebäude demonstrieren und dann durch die Stadt ziehen, die Stadt war nur bereit, eine Kundgebung in der Nähe der Vereinten Nationen zu genehmigen und keinen Demonstrationszug. Mehr sei aus Sicherheitsgründen nicht möglich, wurde argumentiert, schließlich gelte »Code Orange«, die zweithöchste Alarmstufe, und das binde zu viele Polizeikräfte. Vor Gericht bekam die Stadt recht, und doch war es eine Entscheidung, die sie mittlerweile bereuen dürfte, führte sie doch dazu, dass das Verkehrschaos, das sie eigentlich vermeiden wollte, erst recht eintrat. Für viele Stunden ging in der Upper East Side von Manhattan gar nichts mehr, weil so viele Menschen versuchten, zur Kundgebung zu kommen.

Ob es 100 000 Menschen waren oder eine halbe Million, genau wird man es wohl nie erfahren, zu unübersichtlich war die Lage, und ein Großteil der Demonstranten schaffte es ohnhin nicht zur eigentlichen Kundgebung, weil die Straßen schlicht zu verstopft waren. So spazierte man durch die Gegend, versuchte sich ab und zu bei Leuten, die ein Radio dabei hatten zu informieren, ob die Kundgebung überhaupt noch läuft, und freute sich darüber, auch ganz ohne offizielle Genehmigung die Straßen für sich zu haben. Dabei kam es auch zu kleineren Scharmützeln, bei denen Indymedia zufolge mehr als 300 Festnahmen erfolgten.

Und wahrscheinlich war die Botschaft, dass es möglich ist, so viele Menschen auf die Straße zu bekommen, obwohl scheinbar alles dagegen sprach, ohnehin wichtiger als das, was von den Rednern auf der Bühne verhandelt wurde. Denn eine Hysterie, wie sie seit Verhängung von Code Orange durch die USA tobt, dürfte es das letzte Mal in den fünfziger Jahren gegeben haben, als Kindern in der Schule beigebracht wurde, wie man sich im Falle eines Atombombenangriffs zu verhalten hat.

Aufgrund von Geheimdienstinformationen verhängte die Regierung Code Orange, postierte an strategisch wichtigen Positionen Boden-Luft-Raketenwerfer, empfahl den Bürgern, Wasser- und Konservenvorräte anzulegen sowie Plastikfolien und Isolierband parat zu haben, um für einen unter Umständen bevorstehenden Chemiewaffenangriff gerüstet zu sein. Auf CNN ging ein Experte sogar soweit, den Amerikanern die Anschaffung von Kanarienvögeln ans Herz zu legen: Die Vögel reagierten extrem sensibel auf Giftgase, so könne man Zeit gewinnen, um sich selbst zu retten. Zumindest Isolierband, glaubt man dem US-amerikanischen Fernsehen, ist mittlerweile in vielen Baumärkten ausverkauft.

Auch die Linke spielt mit beim großen Hysteriespiel. In der Village Voice verglich Richard Goldstein die gegenwärtige Atmosphäre mit der in Nazideutschland nach der Machtergreifung und schrieb weiter, dass es ihn nicht wunderte, wenn die Bush-Administration demnächst einen Terroranschlag inszenieren würde.

Bei so viel Angst beruhigte es dann doch, dass sich so viele Menschen nicht ängstigen ließen und nicht zu Hause blieben. Denn die Anti-Kriegsbewegung ist längst kein Refugium der Linken mehr. Das Unbehagen am Kriegskurs der Bush-Regierung reicht weit ins bürgerliche Lager hinein.

tobias rapp, new york