Der Planet der Weltbürger

Eine andere Welt ist möglich, diese hier ist bunt, laut und unübersichtlich. Eine Reportage vom Weltsozialforum in Porto Alegre. von wolf-dieter vogel

Summer in the City, Bühnen an jeder Ecke, unzählige Menschen, die sich durch die Straßen schieben, Musik, Party, viel Krach. Hunderte von Zelten säumen das Stück Grünfläche eines Jugendcamps zwischen dem Stadtzentrum und dem Fluss Guaíba, argentinische Punks schlurfen von hier nach dort, an der nächsten Ecke laufen sich ein paar schwarze HipHopper warm, zwei Jugendliche machen Capoeira. Im Hintergrund ist die Stimme des brasilianischen Musikers Jorge Ben Jor zu hören, der im nahe gelegenen Anfiteatro Por-do-Sol vor 50 000 Jugendlichen ein Konzert gibt.

Ein Zelt weiter diskutieren die Letzten noch über Landreformen in Brasilien, vielleicht auch über Alternativen zur existierenden Weltwirtschaft oder über Menschenrechtsverletzungen in Mexiko. Männer im mittleren Alter bieten Zeitschriften feil, die sich Opinion Socialista oder Vanguardia Obrero nennen. An einer Holzwand zeigt ein kleines Plakat einen blutenden Rinderkopf: »No to the murder of animals!« Daneben, zwischen zwei Palmen, fordert ein rotes Transparent: »Viva la revolución!« Im Kinozelt, das rund 1 300 Zuschauern Platz bietet, läuft »Um otro mundo é possível« – eine andere Welt ist möglich. Und die will man hier im südbrasilianischen Porto Alegre auf dem 3. Weltsozialforum (WSF) schon mal vorleben.

Eine Amtssprache gibt es auf dem »Planeten der Weltbürger« nicht. Und auch kein übersichtliches Programm. Wer also den Weg zum WSF finden will, muss sich durchschlagen: mal auf Englisch, mal auf Spanisch, mal auf Portugiesisch, mal auf Französisch. Die Terraviva – »the independent daily of the World Social Forum III« – schreibt gleich in drei Sprachen, je nach Gusto des jeweiligen Autors.

Wer aber versucht, aus den rund 1 700 Konferenzen, Seminaren, Workshops, Panels, Partys und Konzerten die interessantesten herauszufiltern, ist hoffnungslos verloren. Am Tag nach dem offiziellen Beginn des Spektakels taucht ein Programm auf, angekündigt werden dort vor allem die Veranstaltungen, die für die »Großen« von Bedeutung sind: für den Internationalen Rat des WSF, eine Ansammlung der maßgeblichen Nichtregierungsorganisationen (NGO) aus aller Welt. Dieses 130köpfige Gremium entscheidet über die grundsätzliche Ausrichtung des Sozialforums.

Damit sind natürlich auch Zeichen für die Außenwirkung des Treffens gesetzt. Im Rampenlicht stehen die »Stars« der Bewegung: etwa Lucío Inació Lula da Silva, der neue brasilianische Präsident, oder die Attac-Aktivistin Susan George. Ihr französischer Kollege Bernard Cassen referiert vor großem Publikum über »Globalisierung, Information und Kommunikation«, und der US-amerikanische Medienexperte Noam Chomsky erklärt, wie man am besten »dem Imperium« entgegentritt.

Kritiker der Welthandelsorganisation (WTO) wie Martin Khor vom Federal Network aus Malaysia fordern eine Demokratisierung des Gremiums. Für das nächste WTO-Treffen, das im September im mexikanischen Cancun stattfinden wird, kündigt Walden Bello vom thailändischen Focus on the Global South schon mal Mobilisierungen an. Schließlich würden die dort zur Debatte stehenden Vereinbarungen, so das Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen (Gats), der WTO eine weitere Ausdehnung ihrer Macht bringen.

Weniger greifbar als Chomsky, Bello oder George sind die unzähligen Vernetzungstreffen verschiedener Basisorganisationen. Außenstehende haben in den ersten Tagen kaum eine Chance, sich einen Überblick zu verschaffen: Ein umfassendes Programm der rund 1 000 Workshops erscheint erst am dritten Tag des WSF.

Dabei hat man sich in Porto Alegre bestens auf das dritte Treffen der Globalisierungskritiker aus aller Welt vorbereitet. Schon am Flughafen versorgen Mitarbeiterinnen der Stadtverwaltung die 30 000 internationalen Gäste mit den wesentlichen Informationen, eine eigens eingerichtete Buslinie sorgt für die Verbindung zwischen den Veranstaltungsorten: von der katholischen Universität PUC zum Jugendcamp, vom »Anfiteatro Por-do-Sol« (»Sonnenuntergang«) zum Stadion Gigantinho, dem größten Schauplatz des Spektakels.

Lula kommt

»Porto Alegre umarmt die Welt«, lässt die örtliche Tourismusverwaltung wissen und bietet Rundfahrten zu den einschlägigen Projekten der »partizipativen Bürgerbeteiligung« an. Schließlich hat sich die brasilianische Arbeiterpartei PT mit diesem Modell der Mitbestimmung in Haushaltsfragen hier im reichen Bundesstaat Rio Grande do Sul einen guten Namen gemacht. Und es hat einen kleinen Teil dazu beigetragen, dass der PT-Politiker Lula nun die Regierungsgeschäfte in Brasilien führt.

Seit knapp vier Wochen ist Lula nun im Amt, und bislang hält man in Porto Alegre noch große Stücke auf den ehemaligen Gewerkschafter. So wird sein Auftritt am zweiten Tag des WSF zu einem der Höhepunkte. »Lula kommt«, ist ein Programmpunkt, der sich überall herumspricht. Also sind die Zufahrtsstraßen zum »Sonnenuntergang« schon vor dem Auftritt des Staatschefs komplett verstopft. Rund 80 000 Menschen, etwa so viele, wie am Tag zuvor an der Eröffnungsdemonstration teilgenommen haben, tummeln sich auf der Wiese.

Gerüchte kursieren, nach denen einige planen, Lula mit Eiern zu bewerfen. Denn dass der Politiker beschlossen hat, zum Weltwirtschaftsforum nach Davos zu fahren, nehmen ihm ziemlich viele übel. Schließlich habe man erfolgreich gezeigt, »dass die lebenswichtigen Themen für die Welt derzeit in Porto Alegre, nicht in Davos diskutiert werden«, erklärt der brasilianische Ökonom und WSF-Mitorganisator Emir Sader. Diesen »Sieg über Davos« dürfe man jetzt nicht verspielen, indem man das Treffen der anderen Seite anerkenne.

»Fica, Fica« – bleib hier, bleib hier – empfangen denn auch einige Sprechchöre den Präsidenten, als er auf die Bühne tritt. Doch nach den ersten Worten legt sich die Aufregung. »Ich werde nach Davos reisen, um zu zeigen, dass eine andere Welt möglich ist«, erklärt Lula. Und: »Davos hört genau auf Porto Alegre.« Die letzten Buhrufe verstummen, und nach einigen Worten über die notwendige internationale Stärkung sozialistischer Politik und sein Umverteilungsprogramm »Hambre Cero« (»Null Hunger«) ist man vor dem Anfiteatro wieder zufrieden. Zahlreiche rote Fahnen des PT werden bei den letzten Sätzen des Präsidenten geschwenkt.

Um 20.50 Uhr steigt Lula ins Flugzeug in Richtung Schweiz.

Er gehe weder als Gewerkschafter noch als Vertreter des WSF, »sondern als Präsident von 160 Millionen Brasilianern« zum Weltwirtschaftsforum, erklärte Lula zuvor rund 100 Repräsentanten des Internationalen Rates, mit denen er sich im Sheraton-Hotel zum Plausch traf. Insbesondere die Stärkung des Mercosur stehe für ihn auf dem Programm. Der Handelspakt, der Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay verbindet, liegt seit Jahren de facto auf Eis.

Um den heimischen Markt zu stärken, will Lula das Projekt wieder beleben. Schließlich sei die unter der Führung der US-Regierung geplante gesamtamerikanische Freihandelszone Alca »kein Mittel der Integration«. Ernsthafte Verhandlungen seien »nur unter gleichberechtigten Partnern möglich«.

MST und Piqueteros

Dass er bereit ist, über die umstrittene Alca zu verhandeln, kommt bei vielen linken Organisationen schlecht an. In zahlreichen Workshops spielt das Freihandelsabkommen eine große Rolle, und über ein kompromissloses »no al alca« ist man sich so gut wie einig.

Trotz solcher Ungereimtheiten steht für João Pedro Stédile, den Sprecher der brasilianischen Landlosenbewegung MST, außer Zweifel: »Nur weil die Partei, die wir unterstützen, jetzt regiert, werden wir nicht die Hände in den Schoß legen.« Unter großem Beifall erklärt Stédile auf einer Konferenz im Gigantinho die Notwendigkeit einer umfassenden Landreform. Und die werde man nicht gegen, sondern mit Lula erkämpfen.

Der MST zählt zu den wenigen radikalen Organisationen, die auch auf den großen Bühnen ihren Platz finden. Umso mehr finden die Diskussionen über die internationale Vernetzung und Koordination von Basiskämpfen in den über 1 000 Workshops statt. Etwa im überfüllten Raum 122 im Gebäude 15 der katholischen Universität PUC. Dort debattieren Vertreter des MST, der argentinischen Piqueteros und venezolanische Gewerkschafter über die Situation in Venezuela.

Man müsse sich organisieren, um angesichts der permanenten Putschversuche und Streiks einen Zusammenbruch der Regierung von Hugo Chávez zu verhindern, beschwört der venezolanische Gewerkschafter Orlando Chirino die Diskutanten. Auch er habe viel gegen Chávez vorzubringen, aber »wenn diese Opposition der Oberschicht und der Wohlhabenden gewinnt und die Verfassung außer Kraft gesetzt wird, dann hat das auch für die Zukunft Lulas eine große Bedeutung«. Derzeit gelte es, als vereinigte Linke gegen diese Opposition Front zu machen, sagt Chirino und erntet großen Beifall. »Cha-, Cha-, Chávez«, rufen die 100 Teilnehmer im Raum. Und: »Argentina, Argentina.«

No-Go-Area für Chávez

Auch Chávez hat sein Erscheinen angekündigt. Doch darüber ist man im Internationalen Rat weniger glücklich. »Wir wollen nicht, dass es zur Gewohnheit wird, dass Staatschefs und Politiker auf diesem Treffen der Zivilgesellschaft auftreten«, schimpft Ratsmitglied Roberto Savio. Auch Lula habe seine Rede lediglich in seiner Rolle als Präsident des Gastgeberlandes gehalten.

Chávez kommt trotzdem. Doch vorsorglich hat man das Gelände des WSF zur No-Go-Area für den Staatschef erklärt. Also gibt der Venezolaner sein Stelldichein für Journalisten in einem Regierungsgebäude im Stadtzentrum. Locker plaudert der Linksnationalist über all das, was man unter Globalisierungskritikern gerne hört: über den »perversen Mechanismus der Auslandsschulden«, über die »Überdosis Neoliberalismus«, unter der Argentinien zu leiden habe, und über die »Hegemonie der internationalen Finanzorganisationen«. Ganz nebenbei fallen positive Worte über die Arbeit der Attac-Gruppen.

Diese dürften nicht unbedingt scharf auf solche Avancen sein. Die Führungsebene des WSF hat zwei entscheidende Konflikte offensichtlich ausgeblendet: die Krise in Venezuela und den Krieg in Kolumbien. Auf keiner der großen Veranstaltungen spielen diese für Lateinamerika zentralen Themen eine Rolle. Bereits auf der abschließenden Pressekonferenz des Internationalen Rates, der in den Tagen vor dem WSF tagt, geht der Ratssprecher Savio kaum auf Nachfragen zum Besuch von Chávez ein.

Next Stop Indien

Für das Gremium steht die Entscheidung im Vordergrund, wo das nächste WSF stattfinden soll. Nach langen Debatten habe man sich für Indien entschlossen, sagt Savio. Im Jahr 2005 werde das Treffen wieder in Porto Alegre stattfinden. Man hat sich auf einen umstrittenen Kompromiss geeinigt. Offensichtlich will die Mehrheit des Internationalen Rates mit der angekündigten Dezentralisierung nicht Ernst machen. Dabei bestimmt der Standort Porto Alegre stark die Zusammensetzung des Sozialforums. Etwa ein Fünftel der Beteiligten stammt aus Brasilien, die überwiegende Mehrheit aus Lateinamerika, Europa oder Nordamerika. »Asiatische und afrikanische Organisationen fühlen sich deshalb benachteiligt«, berichtet Jürgen Reichel vom Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) im Goethe-Institut von den Debatten, an denen er teilgenommen hat.

Rund 150 Leute versammeln sich am Vorabend des WSF-Beginns in der kulturellen Auslandsfiliale der Deutschen, schließlich bietet sich das Institut als »Treffpunkt für alle deutschsprachigen Teilnehmer« an. Sven Giegold von der deutschen Attac-Sektion findet das ziemlich gut. Das Goethe-Institut sei »die Stütze, damit man hier gut arbeiten kann«.

Der Besuch lohnt sich. Nun weiß man wenigstens, wer sonst noch im Namen der globalisierungskritischen Bewegung aus Deutschland angereist ist: Vertreterinnen und Vertreter von Attac, des EED, des DGB, der regierungseigenen Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ), der sozialdemokratischen Friedrich-Ebert-Stiftung, der grünen Heinrich-Böll-Stiftung sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung der PDS. Ein CDU-Unternehmer will »einen Koffer voll Hoffnung« mit nach Hause nehmen, die PDS-Vorsitzende Gabi Zimmer will wissen, »wie ihr in Porto Alegre über den partizipativen Haushalt gestritten habt«. Klaus Klinger von der Künstlergruppe Farbfieber berichtet, man habe nun im Rahmen des Projektes »Mural Global« eine Mauer an der örtlichen Universität »mit ökologischen Motiven« bemalt. »Ein Wandbild zum Thema Frieden, Krieg, Globalisierung und über alles, was dazugehört«, erklärt der Künstler.

Gaza in Brasilien

Vor dem großen Veranstaltungsraum im Gebäude 41 der Universität PUC verteilen junge Männer und Frauen Palästinensertücher. Im Saal tagt zur gleichen Zeit das Forum für Frieden in Israel und Palästina. Das Kibbutz-Mitglied Ely Ben Gal erklärt auf Fragen eines Palästinensers, dass »Besatzung und Rassismus« nicht Ursache, »sondern Konsequenzen des Konflikts« seien. Allan Jarran, der Vizepräsident der »Palästinensischen Zivilgesellschaft«, fordert ein Rückkehrrecht für alle Flüchtlinge, weil das »Flüchtlingsproblem von Israel geschaffen« worden sei. Viele Palästinenser hätten in arabischen Staaten ihr Zuhause gefunden, entgegnet Ben Gal, und wer von Besatzung rede, müsse auch vom Terror der Selbstmordkommandos sprechen.

Zwei Tage lang diskutieren israelische und palästinensische Delegierte über Wege zum Frieden im Nahen Osten. Doch nach dem Angriff der israelischen Armee auf den Gaza-Streifen am Wochenende brechen die Palästinenser den Dialog ab. Die Atmosphäre habe sich geändert, erklärt Jarran. Die Voraussetzungen, um das Forum weiterzuführen, seien nicht mehr gegeben.

Außerhalb des Saales sieht es um die Voraussetzungen ohnehin schlechter aus. Die »Arabisch-Palästinensische Gesellschaft Brasiliens« sowie kleine kommunistische Organisationen treten immer wieder mit aggressiven israelfeindlichen Parolen auf, in Flugblättern wird die »faschistische Praxis des zionistischen Staates« gegeißelt. Auf der Eröffnungsdemonstration kommen junge Männer, Fahnen schwenkend und vermummt mit Palästinatüchern, als Popstars gut an. »Sharon und Bush sind Terroristen«, skandieren sie und meinen zwei zentrale Themen der Demonstration: den Palästinakonflikt und den bevorstehenden Krieg der USA gegen den Irak.

Eine Gruppe von Frauen, die sich gegen »jeden Fundamentalismus« aussprechen, weil »der Fundamentalismus Frauen ermordet«, fällt unter all den Kämpfern »gegen Militarisierung und Krieg« kaum auf. Auch mit vereinzelten Schildern, auf denen der US-Präsident mit Hitler gleichgestellt wird, kann man hier gut leben.