USA vs. Irak

Liebe aus Projektion

Der Hinweis auf die angeblich funktionierende bürgerliche Gesellschaft in den USA taugt nicht zur Kritik der deutschen Verhältnisse.

Wir leben in keinen sonderlich schönen Zeiten. Mord und Totschlag auf allen Fernsehkanälen, kein Tag, an dem nicht irgendwo ein neuer Konflikt ausbricht oder ein alter Konflikt sich in Erinnerung ruft, keine Stunde, in der nicht irgendwo Menschen umgebracht werden, und niemand weiß genau, warum.

An wen soll man sich wenden? Welche starke Schulter bietet Schutz vor dem Ungemach, das von allen Seiten droht? An wen soll man sich vor allem als Linker wenden? Heute, da die kommunistischen Parteien ihren Namen kaum mehr verdienen und auch sonst die revolutionären Perspektiven nicht gerade an der nächsten Straßenecke warten? Es ist eine tiefe Verzweiflung, die im Herzen vieler Linker schlechte Stimmung verbreitet, und man kann es ihnen oft nicht einmal wirklich verübeln, wenn sie darüber den Kopf verlieren.

Okay, sagen sich diese Linken dann, die Welt ist schlecht und kompliziert, bleiben wir mal bei den einfachen Weisheiten. Der Hauptfeind steht im eigenen Land. Alles, was ihm schadet, ist gut. Und wenn sich dieser Gedanke erst einmal durchgesetzt hat, ergibt sich der Rest fast von selbst. Auf einmal ist man gar nicht mehr so alleine, auf einmal gibt es wieder Länder, Regierungen, Staatsmänner, auf die man sich beziehen kann. Auf einmal ist die Welt nicht mehr ganz so schrecklich, weil man eine starke Schulter gefunden hat.

Anders lässt sich die Entstehung von Sätzen wie den folgenden wohl kaum erklären, geschrieben von Deniz Yücel in einem Diskobeitrag über die Friedensbewegung (Jungle World, 44/02): »Wenn am kommenden Wochenende in New York, Los Angeles und anderen US-amerikanischen Städten einige Hunderttausend Menschen gegen den Irakkrieg demonstrieren, spricht nichts dagegen, dass sie die gleichen politischen Fehler begehen und sich ähnlich infantiler Formen bedienen werden wie ihre deutschen Freunde. Dass solche Massenmanifestationen überhaupt möglich sind, zeigt, dass es sich bei den USA, anders als es ihre linken Gegner in aller Welt glauben, um eine funktionierende bürgerliche Gesellschaft handelt, in der die Regierung einen Krieg führen oder vorbereiten kann, ohne dass die Bevölkerung sich zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenfinden muss. Was die US-Amerikaner wiederholt demonstriert haben, bleibt in Deutschland ein undenkbarer Vorgang.«

Es sind Sätze, die so viele Fragen aufwerfen, dass man über Nebensächlichkeiten wie die, wie wohl erwachsene Protestformen aussehen mögen, gerne hinwegsieht. Es sind Sätze, die so hanebüchen sind, dass sich für einen Augenblick die schwarze Verzweiflung über den Zustand der Welt, die man ja mitunter auch im eigenen Herzen findet, beiseite schiebt und einen fast eine gewisse Erleichterung darüber verspüren lässt, dass die deutsche Linke so marginalisiert ist, dass sie sich in so kleinen Zeitungen wie der Jungle World austoben muss.

So kommt es zumindest zwischen deutschen und amerikanischen Linken zu keinen größeren Verstimmungen. Auch ihrem Gelächter muss man sich nicht stellen, und man braucht ihnen auch nicht zu erklären, dass das, was sie da tun, vor allem eines demonstriert: die Existenz einer »funktionierenden bürgerlichen Gesellschaft« in den USA.

Ihre Regierung könne schließlich einen »Krieg führen oder vorbereiten, ohne dass die Bevölkerung sich zu einer verschworenen Gemeinschaft zusammenfinden muss«. Mit etwas Humor wäre ein »schön, dass uns das mal jemand anderes sagt, als immer nur unsere eigene Regierung« wahrscheinlich die beste Antwort. Aber die amerikanische Linke bekommt von all dem ja nichts mit.

Nun ist es ohnehin ein Argument, dessen Logik nicht wirklich einleuchtet. Wo möchte man hin, wenn man gegen die deutsche Friedensbewegung in Anschlag bringt, ihr Counterpart in den USA begehe zwar die »gleichen politischen Fehler«, aber immerhin sei ihr Tun ein Beweis dafür, dass es sich bei den USA um eine »funktionierende bürgerliche Gesellschaft« handle?

Soll hier eine Norm gesetzt, ein Anker ausgeworfen werden, um sich darin zu bestätigen, dass die Welt doch nicht völlig aus den Fugen geraten ist? Wenn die bürgerlichen Gesellschaften noch funktionieren, dann kann ja auch der Kommunismus nicht mehr weit sein, und solange sich diese Gesellschaften auf dem Boden der ehemaligen Alliierten befinden (früher wurde in ähnlichen Fällen auch gerne Frankreich als Beispiel herangezogen, seit Le Pen dort in die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen gelangt ist, hat es etwas an Beliebtheit eingebüßt), so lange ist auch klar, dass die Ereignisse in Deutschland wieder einmal dem üblen deutschen Bedürfnis nach einem Sonderweg geschuldet sind, der ja bekanntermaßen immer ins Desaster führt.

Das Problem ist nur, dass erstens die USA keine »funktionierende bürgerliche Gesellschaft« sind und zweitens, selbst wenn sie es wären, mit dieser Erkenntnis nichts gewonnen wäre.

Tatsächlich werden die Proteste gegen den Krieg in den USA nicht unterdrückt, die Regierung kann bislang sogar ganz gut damit leben. Aber das dürfte als Kriterium ja wohl kaum ausreichen. Im Gegenteil. Dass die Antikriegsbewegung in den USA einen solchen Zulauf hat und in der Lage ist, Hunderttausende von Menschen nach Washington zu mobilisieren - obwohl sie von den Mainstream-Medien weitgehend ignoriert wird -, liegt genau daran, dass bis weit ins liberale Lager hinein das Gefühl vorherrscht, eben in keiner »funktionierenden bürgerlichen Gesellschaft« zu leben.

Es ist müßig, die zahlreichen Gründe aufzuzählen, die dieses Gefühl nähren, genauso kann man all die Artikel lesen, die in den vergangenen Monaten auf den International-Seiten dieser Zeitung über die Internierungen von muslimischen Migranten oder über den umfangreichen Abbau von Bürgerrechten veröffentlicht wurden.

Vielleicht nur so viel. Der US-Ökonom Paul Krugman stellte vor einigen Wochen im Magazin der New York Times in einem langen Essay unter dem Titel »The End of Middle-Class America (and the Triumph of the Plutocrats)« die These auf, dass die USA sich in einem zweiten »Gilded Age« befänden. Die gegenwärtige Verteilung des Reichtums entspreche ziemlich genau jener Epoche der Industriebarone, Stahl- und Eisenbahnmagnaten vom Ende des 19. Jahrhunderts. »Die 13 000 reichsten Familien in Amerika haben mittlerweile ein Einkommen, das dem der 20 Millionen ärmsten entspricht. Dieses Einkommen ist 300 Mal so hoch wie das einer amerikanischen Durchschnittsfamilie.«

Mit diesem Geld kann man sich Einfluss kaufen. Und dafür muss man gar nicht den Präsidentschaftswahlkampf und die Verbindungen der Regierung Bush zur Ölindustrie als Beispiel heranziehen. Der gerade zu Ende gegangene Wahlkampf um den Gouverneursposten im Staat New York kostete rund 120 Millionen Dollar. Geld, das die Kandidaten fast ausschließlich als Spenden bekommen haben. Wer kein Multimillionär ist, aber trotzdem in der Politik etwas werden möchte, sollte reiche Freunde haben. Wenn das eine »funktionierende demokratische Gesellschaft« ist, was ist dann die Bundesrepublik, eine Wohlfühldemokratie?

Doch selbst wenn die Umstände ganz anders wären, was hätte man mit diesem Argument für die Situation in Deutschland gewonnen? Nichts. Mit der Kategorie der »funktionierenden bürgerlichen Gesellschaft« ist es eben schwer, einen Blumentopf zu gewinnen. Sie macht vielleicht die Welt, in der man lebt, etwas wärmer, wiegt einen in der Illusion, dass es vielleicht doch irgendwo den good guy geben möge, den man dann gegen diesen merkwürdigen Papiertiger ins Feld führen kann, als den Yücel die deutsche Friedensbewegung schildert, jene Mischung aus »Grünen und DKP, Poplinken und Antiimps, Möllemann und Mahler«.

Aber für das, was linke Kritik eigentlich leisten sollte, nämlich eine Kritik an bürgerlichen Herrschaftsformen, ist nichts erreicht. Denn anstatt diese Herrschaftsform zu kritisieren, was ihre Aufgabe wäre, wird sie in diesem Fall affirmiert. Und eine Linke, die sich darauf kapriziert, macht sich selbst überflüssig. Die bürgerliche Herrschaft zu legitimieren, dass können die regierenden Konservativen in Washington sicherlich besser als einige Linke aus Berlin.

Es gibt viele Gründe, gegen Deutschland zu sein, was auch immer man darunter nun genau verstehen mag. Genug auf jeden Fall, um auf eine wenig durchdachte und vor allem auf Projektionen beruhende Liebe zum politischen System der USA verzichten zu können.

Wem tatsächlich daran liegt, das zu kritisieren, was als »Empire« bezeichnet wird, der sollte schleunigst anfangen, über seinen kleinen nationalen Sandkasten hinauszuschauen. Mit einer Kritik, die immer einen good guy benötigt, um ihn gegen die eigene Regierung in Stellung zu bringen, sei es »Milosevic«, sei es »Israel« oder sei es die »funktionierende bürgerliche Gesellschaft« der USA, macht man sich bestenfalls lächerlich.